Die Entscheidung
gut wenn nicht noch besser aussah als in den Zeiten, als sie noch über die Laufstege von Mailand, Paris und New York tänzelte. Noch erstaunlicher war es, wenn man wusste, was sie durchgemacht hatte. Donatella Rahn war eine Frau, hinter der sich viel mehr verbarg, als man vermutet hätte.
Es war ein schöner Herbstmorgen in Mailand, als Donatella zur Arbeit ging. Im Frühling warteten die Bewohner Mailands immer schon sehnsüchtig auf den Sommer, weil sie dann an die schönsten Seen der Welt fahren würden. Doch wenn es August wurde, freute man sich schon wieder auf den Herbst. Die heiße, feuchte Sommerluft brachte einen Smog mit sich, der die Stadt zu ersticken drohte. Die klare kühle Herbstluft hatte eine reinigende Wirkung.
Donatella ging an diesem Morgen eher langsam ihres Weges, was wahrscheinlich an den Stiefeln lag, die sie trug. Sie hatten zehn Zentimeter hohe Absätze und waren, so wie die meisten Modeartikel, an deren Verkauf sie mitwirkte, ziemlich unpraktisch. Sie kam am Modehaus Gucci in der Via Monte Napoleone vorbei und unterdrückte den Drang, auf das Schaufenster zu spucken. Sie bog nach rechts in die Via Sant’Andrea ein und überquerte die Straße.
Direkt vor ihr befand sich das Modehaus Armani, wo sie seit fast fünfzehn Jahren zu Hause war. Donatella war absolut loyal – wahrscheinlich die einzige Eigenschaft, die sie, abgesehen von ihrem Aussehen, von ihrer Mutter geerbt hatte. Donatella hatte einen österreichischen Vater und eine italienische Mutter; ihre Mutter war jüdischer Herkunft und stammte aus Turin, ihr Vater war Protestant und kam aus Dornbirn in Vorarlberg. Es war kein Wunder, dass ihre Ehe zerbrochen war.
Italien war schließlich ein erzkatholisches Land, das sich in seiner Geschichte nicht gerade durch große Toleranz gegenüber anderen Religionen hervorgetan hatte. Die Ehe hatte drei Jahre gehalten; danach waren Donatella und ihre Mutter nach Turin gezogen, wo sie bei ihren jüdischorthodoxen Großeltern lebten. Mit sechzehn riss sie aus und ging nach Mailand. Sie wollte Model werden und hatte von Religionen endgültig die Nase voll. Ihr Traum ging in Erfüllung – doch sie sollte es auf ihrem weiteren Lebensweg alles andere als leicht haben.
Jetzt, nach all den Jahren, betrat Donatella Rahn das Modehaus in dem Wissen, dass ihre Kolleginnen und Kollegen keine Ahnung hatten, wie vielfältig ihre Fähigkeiten waren. Sie ging wie immer am Aufzug vorbei und stieg die Treppe in den dritten Stock hinauf. Und sie war, wie immer, eine der Ersten am Arbeitsplatz. Sie betrat ihr Allerheiligstes und schloss die Tür hinter sich. Ihr Büro sah aus wie die Miniaturausgabe eines Flugzeughangars. Die beiden Sofas und die vier Stühle waren mit allerlei Entwürfen für die neue Kollektion bedeckt. Ihre Kollegen beklagten sich ständig darüber, dass es in ihrem Büro keinen freien Platz gab, wo man sich hinsetzen konnte. Donatella fragte sich, ob sie wohl jemals kapieren würden, dass genau das ihre Absicht war.
Das einzige größere Möbelstück in ihrem Büro, auf dem keine Entwürfe lagen, war ihr Schreibtisch. Donatella setzte sich auf ihren Stuhl und schaltete den Computer ein. Im nächsten Augenblick erwachte der Bildschirm zum Leben. Sie sah nach ihren beruflichen E-Mails und ging dann noch die privaten Nachrichten durch. Danach öffnete sie eine dritte Mailbox, von der man ihr versichert hatte, dass sie absolut anonym war. Es gab nur drei Menschen auf der Welt, die überhaupt davon wussten – einer lebte in Tel Aviv, der zweite in Paris und der dritte in Washington. Fast alle Nachrichten kamen von der Person in Tel Aviv.
An diesem Morgen war es nicht anders. Donatella klickte die Nachricht an, und die Entschlüsselungssoftware auf ihrem Computer fing an zu arbeiten. Als die Botschaft entschlüsselt war, begann Donatella zu lesen. Man bot ihr einen Job in Washington an. Er würde eine Viertel Million Dollar wert sein, was bedeutete, dass der oder die Betreffende nicht unbedingt eine herausragende Persönlichkeit war. Andernfalls wäre es eine halbe Million oder noch mehr. Was das betraf, musste sie ihrem Berater vertrauen. Sie las eine kurze Beschreibung des Ziels und sah dann auf ihrem elektronischen Terminplaner nach. Kommendes Wochenende würde in New York eine Modenschau stattfinden. Es war keine große Schau, doch schließlich ging es in ihrem Job auch darum, junge Talente zu entdecken.
Donatella überlegte eine Minute und entschloss sich dann, den Auftrag anzunehmen.
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