Die Entscheidung
zitterten ihre Beine, aber sie setzte sich trotzdem an die Spitze der kleinen Gruppe, und Dee erlaubte es ihr.
Je näher sie kamen, desto größer wirkte der Leuchtturm. Er war ebenso hoch wie ein echter Leuchtturm, mit einem umzäunten Ausguck auf dem Dach und einem Wetterhahn. Und er schloss an ein breites, dunkles Gebäude an, das Jenny zuvor gar nicht gesehen hatte, weil es nicht beleuchtet war. Ein Restaurant vielleicht, dachte sie.
An der Seite des Leuchtturms befand sich eine hölzerne Tür mit einem großen Eisenknauf.
»Monsterpositionen«, ordnete Dee an, als Jenny die Hand danach ausstreckte. Jenny nahm ebenso wie Dee
Kung-Fu-Haltung ein, und Dee machte sich bereit, die Tür sofort wieder mit einem Tritt zu schließen, sollte irgendetwas Unerfreuliches dahinter lauern.
»Tom und Zach werden natürlich oben sein«, glaubte Michael und stemmte die Hände auf die Schenkel.
Aber sie waren nicht oben.
Es war seltsam, wie das Ende begann. Jenny hatte so lange gearbeitet und gekämpft, hatte die ganze Zeit auf den Moment gewartet, in dem sie Tom wiedersehen würde. Sie hatte so lange gewartet, dass sie gar nicht auf das Ende des Wartens vorbereitet war. Und es schließlich kaum fassen konnte.
Aber dann geschah alles ganz schnell.
Sie zog an dem Eisenknauf, und die hölzerne Tür schwang auf. Es war gar nicht nötig, dass Dee sie zutrat. Das Innere war hell erleuchtet, und nichts stürzte ihnen entgegen.
Links von Jenny führte eine Wendeltreppe mit schwarzen Metallstufen nach oben zum Dach des Leuchtturms. Aber direkt vor ihr konnte sie in das breite angebaute Gebäude sehen. Der Leuchtturm hatte an dieser Seite keine Wand und führte direkt hinein.
Es war ein wundersamer Ort, wie eine über zwei Stockwerke reichende Filmkulisse mit integriertem Minigolfplatz.
»Piraten, siehst du?« Michael spähte über ihre Schulter.
Es gab tatsächlich auch Piraten, die ebenso lebensecht wie die Goldgräber in der Abenteuermine vor einem breiten, wunderbar realistischen Wandgemälde mit einem Vulkan im Hintergrund standen. Der gemalte Rauch und die kleinen Neonlichter als Funken stellten den Ausbruch des Vulkans dar. In dem malerischen Himmel tobte ein gewaltiger Sturm, in dem wirklich Blitze aufflammten.
Am unteren Rand des Wandgemäldes, gleich hinter dem Minigolfplatz, lagen zwei Schlauchboote an den Fiberglasfelsen. Eines der Boote war gemalt, mit einem Piraten, der Augenklappe, Hut, Krawatte und Stiefel trug.
Das andere Boot war echt, mit Tom und Zach.
Jenny schlug ihre Hand vor den Mund. Im nächsten Moment rannte sie auch schon los.
Es gab keine Worte für das, was sie fühlte. In dem Papierhaus war sie für Stunden von Tom getrennt gewesen. Diesmal waren es Tage. Sie war erschöpft, gestresst, halb verhungert und einem Zusammenbruch nah – und doch war sie noch nie im Leben so glücklich gewesen.
Sein bloßer Anblick ließ ein Gefühl von Heimat und Geborgenheit in ihr aufsteigen. Es war, als kehrte sie in ihr eigenes Zimmer zurück, nachdem sie lange Zeit bei Fremden gewohnt hatte.
Hier gehörte sie hin.
Sie schlang die Arme um ihn. Und dann hielt sie sich
einfach nur an ihm fest, und ihr Herz hämmerte und pochte.
»Pass auf, Jenny. Er war noch vor einer Minute hier.«
Und Jenny, die sich in Toms Gegenwart immer so sicher und beschützt gefühlt hatte, stellte fest, dass sie nun selbst einen leidenschaftlichen Beschützerinstinkt gegenüber Tom entwickelt hatte. Als sei er Summer. Während sie in sein liebevolles, gutaussehendes, wenngleich in diesem Moment auch sehr nachdenkliches Gesicht blickte und seine wunderbaren, grüngesprenkelten Augen betrachtete, sagte sie: »Keine Sorge. Ich werde auf dich aufpassen.«
»Lass mich bitte einfach raus«, forderte Tom heftig – bevor er sich geschlagen gab und ihren Kuss erwiderte. Es tat so gut, ihn wieder zu küssen.
»Wenn ihr zwei euch vielleicht für eine Minute voneinander losreißen könntet …«, erklang Zachs Stimme.
Jenny schaute auf. Ihr Cousin saß im hinteren Teil des Schlauchbootes – ja, es war derselbe Cousin, den sie verloren hatte, erkannte sie wie durch einen Nebel. Genau derselbe, mit seiner wunderbar markant gebogenen Nase, seinem hellen Haar, wie immer zu einem lässigen Pferdeschwanz zurückgebunden, und seinen scharfen grauen Augen.
»Und dich habe ich auch vermisst«, sagte sie und kletterte nach hinten, um ihn zu umarmen.
»Wir sind gefesselt«, stellte Tom energisch fest.
Da erst bemerkte Jenny, dass seine
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