Die Entscheidung der Hebamme
die Kapelle. Sie wollte ein Dankgebet für den unblutigen Ausgang des Gerichtstages sprechen und eine Kerze für die glückliche Rückkehr der Männer aus dem Krieg anzünden.
Doch bald spürte sie, dass sie für Gebete zu unruhig gestimmt war. Nicht einmal die friedliche Umgebung und Einsamkeit in der Kapelle mochten sie diesmal zu innerer Einkehr bringen. Ihre Gedanken schweiften ständig ab.
Nach dem vergeblichen Versuch beschloss sie, lieber etwas zu tun, womit sie ihre Hände beschäftigen konnte, und ging in ihre Kräuterkammer, um sauberes Leinen in Streifen zu reißen und zu Verbandsmaterial zusammenzufalten. Irgendetwas sagte ihr, dass sie es bald brauchen würden.
Nach einer Weile kam Johanna, setzte sich wortlos zu ihr und half. Ihr Töchterchen hatte sie mitgebracht. Die Kleine hatte die winzigen Hände zu Fäusten geballt und saugte im Schlaf daran.
Unwillkürlich stahl sich ein Lächeln auf Marthes Gesicht, als sie die Kleine so schlummern sah. Und in Gedanken betete sie, dass der Vater des winzigen Wesens noch lebte und bei guter Gesundheit war.
Clara, die in die Kammer gestürzt kam, unterbrach sie in ihren Überlegungen. »Sie kommen mit einem Verletzten«, stieß das Mädchen atemlos hervor.
»Wer?« Marthe war unweigerlich zusammengefahren. Hatte es bei der Jagd einen Unfall gegeben? Oder gehörte der Verletzte zu den Männern, die mit Christian in den Krieg gezogen waren?
Clara schien ihre Gedanken erraten zu haben.
»Einer von Albrechts Tölpeln«, sagte sie abfällig, und aus ihren Worten sprach so viel Verachtung, ja, Hass, dass Marthe angst um ihre Tochter wurde.
»Hast du heute nicht gesehen, was denen geschieht, die Albrecht nicht genügend Respekt entgegenbringen?«, fuhr sie das Mädchen an, während Johanna erschrocken von ihrer Arbeit aufsah. Solch einen Ton schlug ihre Stiefmutter nur selten an.
»Ja, Mutter«, antwortete Clara, mäßig zerknirscht, um gleich darauf zu beteuern: »Sei nicht bange, von denen bekommt mich keiner von nahem zu sehen. Und wenn, dann nur sittsam still und mit schüchtern gesenktem Haupt.«
Sie lachte sogar ein bisschen.
Hat sie doch nicht begriffen, wie gefährlich das alles für uns werden kann?, dachte Marthe sorgenvoll. Vielleicht habe ich ihr zu viel zugemutet; sie ist noch nicht einmal acht Jahre alt. Ich muss mit ihr darüber reden, nachher, ganz allein.
Aber jetzt hatte sie sich erst einmal um einen Verletzten zu kümmern.
Hartmut und ein Begleiter kamen in raschem Tempo durch das Burgtor geprescht. Der Ritter hielt vor sich im Sattel einen Mann, dessen Bliaut blutdurchtränkt war.
Sie lief ihnen entgegen, ein paar Stallburschen rannten herbei und halfen, den Verletzten vorsichtig vom Pferd zu hieven. Schon auf den ersten Blick sah es böse aus; die blutige Kleidung war unterhalb des Gürtels zerfetzt; aus einer weiteren Wunde am Bein rann noch mehr Blut.
»Ein riesiger Keiler hat ihn umgerannt und aufgeschlitzt«, berichtete Hartmut. »Ehe wir die Bestie niederstechen konnten, war es schon passiert.«
Der Verletzte war noch jung und hatte seine Erhebung in den Ritterstand wohl gerade erst hinter sich, er gehörte zu Albrechts Gefolge. Dietmar hieß er, rief sich Marthe in Erinnerung. Trotz der großen Wunden und des Blutverlustes schien er keine Schmerzen zu spüren. Das war ein schlechtes Zeichen.
Sie hatten also keine Zeit zu verlieren. Auf ihren Befehl hin wurde der Verletzte auf das Podest gelegt, von dem aus Albrecht am Morgen noch Gericht gehalten hatte. Noch herrschte Tageslicht, wenn auch sicher nicht mehr lange. In der Kammer, nur bei Kerzenlicht, würde sie nicht genug sehen können.
Als der junge Ritter auf den Holzbohlen lag, schlug Marthe vorsichtig sein Obergewand hoch, um zu sehen, wie groß die Verletzung war. Inzwischen hatte Johanna bereits damit begonnen, die Wunde am Bein abzubinden. Doch als sie sahen, welchen Schaden das wilde Tier angerichtet hatte, tauschte sie mit Johanna nur einen Blick und ließ das Obergewand wieder auf den Körper sinken.
Auch Hartmut erkannte sofort, dass hier keine Hilfe mehr möglich war. Der Unterleib war fast über die gesamte Breite aufgeschlitzt, zerfetztes Gedärm hing heraus, während Blut aus der Wunde floss.
»Er hat sich vor Albrecht geworfen, als die Bestie ihn angreifen wollte«, murmelte er betroffen.
»Ich gehe den Priester holen«, sagte Marthe leise. Dem jungen Mann zuliebe würde sie sogar persönlich zu Sebastian gehen, damit er schnell genug kam, um
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