Die Entscheidung der Krähentochter: Historischer Kriminalroman (German Edition)
anscheinend nach. Sie griff zu, Baldus ebenfalls, von Mollenhauer hingegen begnügte sich mit einem Becher Wasser.
Schweigend aßen sie die folgenden Minuten, bis Bernina ihre Schüssel beiseiteschob und von Neuem zu ihrem Gastgeber schaute, der sich entspannt im Stuhl zurücklehnte. »Vielen Dank für die Mahlzeit, Herr von Mollenhauer.«
Seine Lippen bildeten eine fein geschwungene Linie. Er äußerte keinen Ton.
»Oder soll ich lieber sagen: Herr Mentiri?«
Spöttisch zog er die Augenbrauen in die Höhe. »Bitte?«
»Ich weiß nicht, wie es Ihnen gelingt.« Bernina ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Aber irgendwie haben Sie sich für Ihren Aufenthalt in Teichdorf 20 Jahre verjüngt. Sie hatten eine Kleidung ausgewählt, die sich deutlich von dem unauffälligen Dunkelbraun Ihrer jetzigen unterschied – und Sie verwendeten eine Augenklappe, soviel ist klar. Aber der Rest der Maskerade … ? Tatsächlich, Sie wurden zu einem anderen Menschen, jedenfalls auf den ersten Blick. Dennoch sind Sie und Mentiri ein und dieselbe Person.«
»Zu diesem Schluss kommen Sie also?« Sein Lächeln blieb.
»Ich finde, Sie könnten dem Schauspiel ein Ende setzen.«
»Das wäre schade, macht doch kaum etwas mehr Spaß, als in eine andere Haut zu schlüpfen. Wie gern wäre ich Schauspieler geworden. Nun ja, in gewisser Weise bin ich das sogar.«
»Sie geben zu, dass Sie Mentiri sind?«
»Meine Liebe, ich gebe niemals etwas zu. Das ist eine Vorgehensweise, an der ich schon ein halbes Leben lang festhalte. Mit Erfolg, jedenfalls meistens. Zudem bin ich … «
»Wie dem auch sei«, fiel Bernina ihm ins Wort, erfasst von Ungeduld und immer stärker glühendem Zorn. »Ich verlange von Ihnen, dass Sie mir meine Familienchronik aushändigen. Sie befindet sich hier, nicht wahr? Hier in diesen Mauern.«
»Nein, das tut sie nicht. Außerdem … «
»Und ich verlange die Wahrheit«, unterbrach sie ihn abermals. »Wenigstens mehr zu erfahren, als Sie bislang für notwendig erachteten.«
Von Mollenhauer hielt ihrem wütenden Blick stand, alles andere als überrascht von ihrem barschen Ton. Sie betrachtete die Falten und Fältchen um Augen und Mund, sein gepflegtes schönes Silberhaar, den getrimmten Bart. Und diesen Ausdruck, der auf seinem Gesicht lag, der auf rätselhafte Weise Milde und Härte, Nachsicht und Rücksichtslosigkeit miteinander zu verbinden schien.
»Gestatten Sie mir«, bat er, »dass ich Ihnen eine Geschichte erzähle?«
»Ich sprach von der Wahrheit und Sie wollen mir allen Ernstes … «
»Es ist ein sonniger Morgen.« Diesmal war er es, der ihr ins Wort fiel. »Geradezu ideal für eine Geschichte. Schenken Sie uns ein wenig Zeit. Aus Geschichten lernen wir, sie sind die Grundlage für unsere tägliche Wahrheit, wenn man es so sehen will.«
Bernina verständigte sich durch einen raschen Blick mit Baldus, der die ganze Zeit über gebannt zuhörte. »Bitte«, meinte sie schließlich, »erzählen Sie.«
Zufrieden verschränkte von Mollenhauer die Finger seiner schmalen, fast weiblichen Hände und stützte die Ellbogen auf der Tischplatte ab. »Meine Geschichte handelt von einem Mann namens Jan Simons. Sie spielt in der wunderschönen Stadt Prag, vor mittlerweile 24 Jahren, als der endlose Krieg noch jung war. Es war ein Tag, an dem die Welt einmal mehr Feuer fing.«
*
Die Springbrunnen versiegten, der Geruch von Schnee schwebte durch die Gassen, auf Fensterglas bildeten sich Reifringe. Es war kalt in jenem lange zurückliegenden November des Jahres 1620. Umschwebt von Nebelschleiern erhob sich die Prager Burg geradezu friedvoll über dem Dächergewirr der Stadt, ein überaus imposantes, sich dem Gedächtnis einprägendes Bauwerk.
Das Innenleben der Burg bot ein beinahe noch eindrucksvolleres Bild. Bogengänge, Innenhöfe, Kapellen, gleich mehrere Klöster und Schenken. Etwa 200 Meter vom Königlichen Palast entfernt, stand das neueste der vielen Gebäude, eine unter dem Namen ›Spanischer Saal‹ bekannte Ansammlung von Galerien. Dort fanden sich Abertausende von Büchern und Manuskripten, die zu den wertvollsten in ganz Europa zählten. Und dort fand sich außerdem ein Bibliothekar, der seit einigen Jahren hier angestellt war.
Er hieß Jan Simons, stammte ursprünglich aus Frankfurt am Main und war ein etwas eitler, im Grunde harmloser Mann in mittleren Jahren, der sich gern auffallend kleidete und Duftwässerchen schätzte – und der zum ersten Mal, seit er zurückdenken konnte, zutiefst
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