Die Entscheidung der Krähentochter: Historischer Kriminalroman (German Edition)
Schriften aus der Prager Burg, beaufsichtigt von dem Bibliothekar, der spürte, dass gleichzeitig sein altes Leben immer mehr verblasste. Er zählte die Kisten – und in Gedanken immer wieder das zuvor erhaltene Geld.
Noch während er sich die Hände rieb, riss der erste Kanonenschlag der kaiserlichen Armee die gesamte Stadt aus ihrer sorglosen Stimmung. Am Sommerpalast nahm die Schlacht ihren Anfang, wo die böhmischen Soldaten hinter Feldschanzen in Deckung gingen, bis sie irgendwann Munitionskarren und Lafetten zurückließen, um nur noch um ihr nacktes Leben zu rennen. Innerhalb weniger Stunden war die Schlacht vorüber, die kaiserliche Armee hatte gesiegt, Friedrich und Elisabeth, das Königspaar, befanden sich auf der Flucht. Prag standen viele Hinrichtungen bevor.
Doch da hielt sich Jan Simons längst nicht mehr in der Stadt auf. Ihn erwarteten bereits neue, ungleich größere Herausforderungen, die ihn von hier nach dort trieben. Nirgendwo würde er von nun an zu Hause sein, ein Umherstreifender war er geworden, dazu bestimmt, im Zwielicht der Welt ein schattenhaftes Dasein zu führen.
*
Schneller als je zuvor hatte Nils Norby die Täler und Gipfelkuppen überwunden, dann auch die Hochebene, die er ein Stück weit durchqueren musste. Düstere Tannenwälder, helle Weideflächen und Felder, anschließend der steile Abhang, der vorsichtiges Reiten erforderte.
Vorsicht war auch weiterhin geboten, allerdings nicht aufgrund des Geländes, das nun flacher wurde, sondern wegen anderer Gefahren. Dies war eine Gegend, die berüchtigt war für Wegelagerer und Diebe, für übles Gesindel, das die Durchreisenden überfiel, ehe die Stadt und damit die Gesetzesvertreter erreicht wurden.
Zuletzt war alles ruhig gewesen, doch das mochte nichts heißen.
Tief eingeschnitten lag die Schlucht vor Norby. Gewaltige nackte Felsen, die rechts und links fast senkrecht in den Himmel ragten. Hier und da gab es Wasserfälle, die in die Tiefe stürzten, der Untergrund bestand aus feuchten Moosen, Flechten, Gesträuch. Das war das Höllental, ein scharfer Messerschnitt, den einst die Götter dem Boden beigebracht zu haben schienen: eine Schneise, die auf geradem Weg nach Freiburg führte.
Kühler als zuvor war die Luft. Die schroffen Wände warfen Schatten, die alles in ein diffuses Licht tauchten. Sonnenstrahlen verirrten sich kaum hierher.
Norby stieg vom Pferd, führte es am Zügel weiter – er wollte ein so kleines Ziel wie möglich abgeben, sich so vorsichtig wie möglich voranbewegen. Bei der Kutschfahrt zuletzt, ehe die Markttage begonnen hatten, war alles gut verlaufen, keine einzige verdächtige Gestalt war ihnen begegnet. Ebenso auf seinem einsamen Weg zurück zum Petersthal-Hof. Aber der Schwede wusste, wie launisch das Glück sein konnte.
Er dachte noch einmal an den einsamen Gasthof, den er in der Nähe des Taleingangs zunächst aus sicherem Abstand beobachtet hatte, ein weithin bekannter Anziehungspunkt für Reisende. Nichts Auffälliges an dem Anwesen, keine Gäste, niemand war zu sehen gewesen. Deshalb war Norby schließlich doch hingeritten. Er hatte den Hengst mit Brunnenwasser getränkt, seinen ledernen Wasserschlauch aufgefüllt und ein paar Worte mit dem Wirt gewechselt, der an der Vordertür erschienen war.
»Ruhig ist es gewesen«, hatte der Mann berichtet, »heute und auch gestern. Beinahe verdächtig ruhig.« Zwei dunkel gekleidete Reiter hatten hier keine Rast eingelegt, wie Norby auf Nachfrage erfahren hatte.
Weiterhin hielt er sich dazu an, langsam weiterzugehen – obwohl ihn innerlich alles zur Eile antrieb. Zumindest bis er dieses Tal hinter sich gebracht haben würde.
Das Moos schluckte die Geräusche seiner Schritte, gelegentlich klackte ein Huf des Pferdes gegen einen Stein. Stille hüllte Norby ein. Niemand schien hier in letzter Zeit vorbeigekommen zu sein, keine Abdrücke in der Erde, keine gebrochen herabhängenden Zweige. Der Talausgang rückte näher, Norby konnte ihn bereits erahnen. Einen verrückten Moment lang musste er an die Krähe denken – sie war das Erste gewesen, was er gesehen hatte, als er schwer verletzt vor dem Petersthal-Hof erwacht war. Warum sie ihm jetzt einfiel, konnte er sich nicht erklären. Die Einbildung gaukelte ihm vor, in dieser Sekunde ihr Krächzen zu hören, fast wie ein Warnruf.
Oder bildete er es sich gar nicht ein?
Norby schaute hoch zu dem schmalen Himmelsstreifen, der das Tal überzog. Aber da war keine Krähe zu entdecken. Und im nächsten
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