Die Entscheidung der Krähentochter: Historischer Kriminalroman (German Edition)
den Toten nach unten in den Keller, um ihn in einer Nische abzulegen. Etwas Angemesseneres, Würdevolleres war im Moment nicht möglich. Das unterirdische Labyrinth strahlte gleich noch mehr Düsternis aus, befanden sich dort doch bereits zwei Leichen, für die sie keinen besseren Platz gewusst hatten. Es handelte sich um Konrad, den Gefährten Lorentz Fronwiesers, und einen der drei Unbekannten. In den folgenden Stunden, als die Nacht den Krieg zum Schweigen brachte, ging von der Nähe der Toten eine schlimme Wirkung auf Bernina aus. Manchmal, in furchtbaren Träumen, sah sie sie durch die Zimmer schleichen, aus Wunden blutend, mit glühenden Augen.
Der nächste Tag kam, mit ihm die Schüsse und die Angst, die nächste Nacht und wieder ein Tag voller Krieg. Die Welt rund um Gotthold von Mollenhauers Fachwerkbau erzitterte. Mit Voranschreiten der Zeit erwies sich Baldus als zunehmend unersetzliche Hilfe. Wiederholt verabschiedete er sich in den Nächten von Bernina und Nils, um zu ausgedehnten Streifzügen durch die Stadt aufzubrechen. In der Morgendämmerung kehrte er zurück, mit einem toten Huhn, ein paar Eiern, einem Säckchen Salz oder Mehl, auch mit etwas Schwarzbrot.
Wie er Essbares auftrieb, ahnten Bernina und Nils, sie verlangten jedoch niemals eine Erklärung von dem gewitzten Kerl. Es war nicht die Zeit, Fragen zu stellen, es war die Zeit des Überlebens. Mit einer kaum zu unterdrückenden Scham nahmen sie das Wenige, was Baldus brachte, zu sich.
Zu dritt verharrten sie in dem Haus. Wie Gefangene, aber am Leben. Und da draußen ging die Schlacht immer weiter. Anders als Nils vermutet hatte, wurde der Widerstand der verteidigenden Soldaten nicht schwächer, woran offenbar die eingetroffene Verstärkung großen Anteil hatte. Die Verteidiger hielten Franz von Lorathot stand, konnten sogar hier und da Gegenattacken führen, die die Gegner empfindlich trafen und für große Verluste sorgten.
»Wie lange das wohl noch dauern mag?«, meinte Bernina wieder einmal. Es war nach Einbruch der Nacht, eng aneinander geschmiegt saßen sie und Nils auf einer Bank in der Küche, während Baldus an einem der Fenster Wache hielt.
»Die eingetroffene Verstärkung hat einiges verändert«, gab Nils zurück. »Franz von Lorathot muss sein großes Heer mit Nahrung versorgen, auch die Pferde. Ihm geht die ganze Sache bestimmt schon viel zu lange. Sicherlich haben die Ortschaften rund um die Stadt gehörig bluten müssen. Je länger die Belagerung anhält, desto heikler wird es auch für die Angreifer. Viele Verletzte, womöglich viele Tote, die sich nicht ersetzen lassen. Und wie gesagt, die Schwierigkeit, Mensch und Tier ausreichend zu ernähren.«
Bernina sah ihm an, dass er bei solchen Gelegenheiten in seine Vergangenheit abrutschte, wie fast vergessene Bilder von Neuem Gestalt annahmen. Gerade dann wurde ihr klar, dass sie alles dafür geben würde, wenn sie die Ruhe der letzten drei Jahre zurückholen könnte. Sie hasste sich selbst dafür, dass es ihr nicht gelungen war, sich aus dem festen Griff des Kummers zu befreien. Sie hatten ein Kind verloren, gewiss, jedoch nicht das eigene Leben. Es war höchste Zeit geworden, dass sie aus diesem Dämmerzustand aufwachte. Würden sie beide, sie und Nils, je ihr altes Leben zurückgewinnen?
Der folgende Tag war der erste, der nicht mit dem Brüllen der Waffen begann. Über der Stadt lag eine glasklare Ruhe, die fast fremdartig anmutete. Der Vormittag schlich vorbei und als die Sonne am höchsten stand, war noch immer kein einziger Schuss gefallen. Auch die nächsten Stunden blieben ruhig. Noch bevor die Abenddämmerung hereinbrach, schlich Baldus sich aus der Hintertür ins Freie. Bei seiner Rückkehr eine Stunde später hatte er Wichtiges zu berichten.
Dem Knecht war es gelungen, einiges aufzuschnappen. Wie er erzählte, veränderte sich das Bild der Stadt, erst nach und nach, dann schnell. Fenster wurden von Brettern befreit, Stimmen erklangen, noch leise, aber man wagte wieder, die Nase nach draußen zu strecken, die eine oder andere Bemerkung mit den Nachbarn auszutauschen, sogar aufzubrechen und Verwandte und Freunde aufzusuchen, um sich nach deren Befinden zu erkundigen.
Offenbar war ein Angriff der bayerischen Reitertruppen auf die Flanke der französischen Verteidiger erfolgreich verlaufen – zahlreiche Franzosen waren scharenweise geflüchtet, während viele nach wie vor alles daran setzten, die Stellungen zu halten. Dann jedoch war Erstaunliches passiert: Von
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