Die Entscheidung der Krähentochter: Historischer Kriminalroman (German Edition)
Lorathots Soldaten verweigerten einen Befehl. Sie sollten eigentlich den fliehenden Feinden nachsetzen, um ihnen den Garaus zu machen. Doch Erschöpfung, eine furchtbar schlechte Versorgungslage und eigene Verluste hatten die Armee deutlich geschwächt. So sah der berühmte Feldherr sich gezwungen, etwas zu tun, was er nie zuvor getan hatte: Er gab nach, wich von seiner eigenen Order ab – und er widersetzte sich zudem einer klaren Anweisung, die er von Kurfürst Maximilian erhalten hatte. Trotz der Vorgabe, Freiburg unter allen Umständen einzunehmen, zog er sich mit seinem Gefolge zurück.
Wie es hieß, befand sich Franz von Lorathot bereits auf dem Weg in das etwa 60 Kilometer entfernte Villingen, um seinen Einheiten dort, wo keine Gefahr durch feindliche Verbände drohte, Erholung zu gönnen und die Proviantsäcke zu füllen. Angeblich unternahmen nun die französischen Truppen den Versuch, den Feldmarschall zu verfolgen – bloß um aus vergleichbaren Gründen rasch aufzugeben: völlige Erschöpfung, keinerlei Vorräte, große Verluste.
Franz von Lorathot zog sich zurück … Konnte das wahr sein? Ausgerechnet der teuflische Lorathot sollte klein beigeben? Aufgeregt und ungläubig schilderte Baldus diese Neuigkeiten.
Aber die Ruhe, die auf einmal von der Stadt und der Gegend rund um Freiburg Besitz ergriffen hatte, ließ an dieser Nachricht, die schnell und immer schneller die Runde machte, kaum noch Zweifel. Es war, als würde die ganze Welt aus einem tiefen Albtraum erwachen. Noch am selben Tag füllten sich bereits wieder die Straßen, die Stimmen, vorher noch leise, wurden voller, man unterhielt sich über das Geschehene, stellte Vermutungen an über das, was diese Schlacht nun eigentlich verändert haben mochte: Wer war der Sieger? Gab es überhaupt einen? Oder würden sich beide Seiten als Gewinner ausrufen lassen, wie es schon häufig in diesem Krieg vorgekommen war?
Auch eine andere Neuigkeit, die Baldus in Erfahrung gebracht hatte, machte offenbar überall die Runde: Der stadtbekannte Lorentz Fronwieser war tot aufgefunden worden. Mit durchgeschnittener Kehle. Ein Schicksal, so meinten die meisten, das zu seinem Leben passte, ein Ende, das er verdient hatte.
Bernina überraschte die Nachricht nicht. Und – anders als die übrigen Leute in der Stadt – scherten sie sich nicht sonderlich darum, wer denn nun die Schlacht für sich entschieden haben mochte; was für sie zählte, war nicht ihr Ausgang, sondern dass sie überhaupt ein Ende gefunden hatte. Und jetzt gab es nur noch ein Ziel für sie: Möglichst schnell aus Freiburg wegzukommen – der Ort, der beinahe ihr Untergang geworden wäre.
In zuversichtlicher Stimmung machte sich Nils am nächsten Morgen auf, um einen Wagen zu erstehen. Es war tatsächlich ein Glücksfall, dass ihr Geldversteck nicht entdeckt worden war. Er kaufte schließlich einen klapprigen, einachsigen Karren mit Scheibenrädern. Was mehr Zeit in Anspruch nahm, war der Kauf von Tieren. Es gab nicht mehr so viele – etliche Pferde waren von den Armeen gestohlen worden oder im Kochtopf gelandet. Es war wirklich ein Jammer, dass Nils Hugo, diesen zähen, durch nichts klein zu kriegenden Hengst, notgedrungen durch die Wirren der letzten Tage im Lager von Franz von Lorathots bayerischer Armee hatte zurücklassen müssen. Aber nach hartnäckiger Suche und ebensolchem Feilschen gelang es Nils, eine dürre Stute und einen Esel zu erstehen.
Nachdem er die Tiere vor von Mollenhauers Haus festgebunden hatte, kam er in die Küche. »Ich hoffe nur«, meinte Nils, »dass morgen die Stadttore geöffnet werden.«
»Ich kann mir vorstellen«, entgegnete Bernina, »dass die Stadtväter froh sein werden, wenn so viele Menschen wie möglich Freiburg verlassen. Nach der Schlacht herrscht hier ohnehin ein großes Durcheinander.« Sie überlegte. »Meinst du nicht, dass es ziemlich gefährlich werden könnte, bereits morgen aufzubrechen?«
Er nickte. »Es wäre blanker Leichtsinn, anders zu denken. Überall in der Gegend können sich noch Deserteure, versprengte kleinere Soldatentrupps oder sonstige Säbelrassler aufhalten. Du weißt selbst, dass eine Armee jede Menge Ungeziefer anzieht. Aber wir waren uns doch einig, dass wir … «
»Ja«, fiel sie ihm ins Wort. »Und ob wir das waren. Ich will fort von hier. So sehr habe ich mich auf die Stadt gefreut. Und dann das. Der Krieg, Helenes Tod. Es ist alles so bedrückend hier. Die Luft unseres Tals fehlt mir. Keine engen Gassen, keine
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