Die Entscheidung der Krähentochter: Historischer Kriminalroman (German Edition)
holpernden Wagen mit Bernina und Baldus zuritt, zum ersten Mal seit ihrem Aufbruch in Freiburg in schnellem Galopp.
»Halt!«, rief er, nicht laut, jedoch mit unmissverständlich warnendem Ton, und griff hart in die Zügel.
Der Knecht brachte den Wagen zum Stehen.
»Was ist los?«, wollte Bernina wissen.
»Irgendwo dort«, Norbys Finger wiesen nach vorn, »da ist jemand.«
»Die Reiter, deren Spuren Baldus entdeckte?« Berninas sah ihn voller Sorge an.
»Das weiß ich noch nicht.« Er hob kurz die Schultern. »Könnte jedenfalls sein, dass wir uns auf eine Falle zubewegen.«
Unwillkürlich musste Bernina an jene Bemerkung denken, die sie nur Stunden zuvor geäußert hatte: das Unheil, das auf sie warten würde. Ein kalter Schauer erfasste sie.
»Am besten«, meinte Nils, »ihr versteckt euch und den Wagen zwischen den Bäumen.« Dann fügte er leiser hinzu: »Und ich werde mich noch einmal genauer umsehen.«
Er hatte gerade ausgesprochen, da schoben sich einige Gestalten zwischen den Bäumen hindurch ins grelle Tageslicht. Höchstens ein paar Meter entfernt, erst links von ihnen, gleich darauf auch auf der rechten Seite.
Bernina fühlte, wie ihr Herz wild in der Brust schlug. Nils zog den Degen, den er sich in den Gürtel geschoben hatte. Die Klinge stach in die Luft und warf die Strahlen der Sonne zurück.
Kapitel 6
Wolfsherzen
Gerüche von Harz und Moosen , die Luft erfüllt vom Summen der Insekten. Die Sonne brannte mit wilder Kraft auf den Schwarzwald herab und erreichte auch jene Stellen, die versteckt zwischen den eng stehenden Bäumen lagen.
Im Kreis saßen sie auf der Erde, die noch leicht feucht war von dem letzten kurzen Regenschauer. Bernina neben Nils, neben ihm wiederum Baldus. Man hatte Wachen aufgestellt, rund um die von Bäumen und Strauchwerk verborgene Lagerstelle. Mehrere einfache Handkarren, Bündel mit Kleidung und Taschen mit Essensvorräten, drei Eselwagen, auf denen die Kinder zwischen zusätzlichen Proviantsäcken saßen. Ackergäule, auf deren breite Rücken Packen geschnürt worden waren.
Leise hingen die Stimmen in der Luft, als könnte ein einziges lautes Wort zu viel sein und eine Katastrophe heraufbeschwören.
Bernina spürte noch immer die Erleichterung in sich, jenes angenehme Gefühl, das sie empfunden hatte, als sie erkannte, dass von den Menschen, die sich ihnen näherten, keine Gefahr ausging. Im Gegenteil, sie kannten die Leute, Teichdorfer allesamt und zudem einige Bauern von umliegenden Höfen, also Nachbarn von Bernina und Nils. Darunter befand sich auch das Ehepaar Lottinger, das Nils beigestanden hatte, als er schwer verletzt gewesen war.
»Eine verdammt üble Bande ist das«, sagte Hermann Lottinger gerade, und die Übrigen stimmten mit entrüstetem Kopfnicken zu. »Die treibt sich schon seit ein paar Tagen hier herum.«
»Wir sahen die Spuren«, warf Norby ein. »Dreißig oder vierzig Mann.«
»Mit Pulver sind sie anscheinend nicht mehr so gut versorgt. Aber sie haben alle möglichen Schlag- und Stichwaffen, sie sind kampferprobt, sie haben keinerlei Skrupel.« Lottinger schnaubte wütend. »Ihrem Aussehen nach handelt es sich um Deserteure, Männer, wie du sie überall rund um die Schlachtfelder dieser Welt findest. Oder eben eher auf der Flucht davon. Alles spricht dafür, dass sie bis vor Kurzem noch zu Lorathots Armee gehörten. Einige reden mit bayerischer Zunge, aber alles in allem ist das natürlich ein bunt zusammengewürfelter Haufen. Wie so viele andere auch.«
»Drei Höfe haben sie schon verwüstet«, ergänzte einer der Bauern, er hieß Kuntzendorf. »Die Vorratskammern leer gefressen, die Frauen misshandelt, die Männer bewusstlos geprügelt. Es läuft doch immer auf dasselbe heraus, wenn Armeen in der Nähe sind.«
Mehrere Männer ergänzten die Schilderungen der Gewalttaten mit entsetzlichen Einzelheiten. »Könnt ihr euch noch erinnern?«, fragte Lottinger dumpf. »Als Söldner in Kirchofen gewütet haben wie der leibhaftige Teufel. Um an Essensreserven heranzukommen, haben sie ehrliche Leute bei lebendigem Leib in einer Weinpresse zu Tode gequetscht. Herr im Himmel, was hat unsere Gegend schon für Grausamkeiten mit ansehen müssen.«
Erneut erhob sich beipflichtendes Gemurmel.
»Sind noch andere Teichdorfer auf der Flucht?«, erkundigte sich Bernina.
»Ja«, kam rasch die vielstimmige Antwort. »Etliche. In alle möglichen Richtungen. Vor allem in kleinen Gruppen zogen sie los, auch einzelne Familien, was wir als besonders
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