Die Entscheidung der Krähentochter: Historischer Kriminalroman (German Edition)
sein. Lasst uns von hier verschwinden und noch mehr Abstand zwischen uns und das Dorf bringen, bevor die Dunkelheit kommt.«
Selbst jene, die nickten, machten keine Anstalten, den Weg fortzusetzen. Offenbar waren alle wie gefangen von der Situation, von der Ungewissheit und der Gefahr, die in diesen Tagen Teichdorf drohte.
Bernina trat vor. »Ich möchte etwas sagen.«
Alle Augen richteten sich auf ihre Gestalt. Wild umhüllte das länger nicht mehr geschnittene Haar ihren Kopf, ihre Schultern. Man hatte sie im Dorf als Hexe, als Krähentochter bezeichnet. Das Leben ihrer Mutter als eigenbrötlerische Heilerin, die Erbschaft des Hofes, die Liebe zu einem früheren Soldaten aus Schweden, all das hatte dazu geführt, dass Bernina nie eine unter vielen in dieser Gemeinschaft gewesen war. Und auch heute noch waren nicht alle Blicke, die sie auf sich zog, freundlicher Natur.
»Ich möchte euch vorschlagen«, sagte sie nach einer Pause, »dass wir … «
»Genug der Vorschläge«, schnitt Kuntzendorf ihr das Wort ab. »Wir müssen weiter.«
»Nein«, widersprach Gertrud Lottinger mit fester Stimme. »Bernina soll sagen, was sie zu sagen hat.« Zwischen den beiden Frauen hatte sich in den letzten Jahren zwar keine Freundschaft, aber doch ein überaus gutes Verhältnis entwickelt.
»Ich möchte euch vorschlagen«, setzte Bernina von Neuem an, »dass wir alle gemeinsam zum Petersthal-Hof aufbrechen. Es ist der Hof, der am abgelegensten ist. Fremde finden kaum einmal den Weg dorthin. Das Haupthaus und die Scheune bieten Platz. Wir haben viele Kinder dabei. Ich finde, sie sind unter einem Dach besser aufgehoben als unter freiem Himmel.«
Gemurmel hob sich an.
»Ob wir dort sicherer sind?«, zweifelte Kuntzendorf.
»Das kann ich nicht mit Gewissheit sagen«, antwortete Bernina sofort. »Aber wir würden den Hof vor Einbruch der Dunkelheit erreichen. Und morgen früh könnt ihr immer noch weiterziehen.«
Erneut Gemurmel, diesmal mit beifälligem Klang. Viele nickten, selbst Kuntzendorf erhob keinen Einspruch mehr.
Bernina wechselte einen Blick mit Nils. »Du findest das doch in Ordnung?«
»Sicher tue ich das«, entgegnete er mit gelassenem Nicken.
Wenige Minuten später brach die Gruppe auf, Norby auf dem Pferd an der Spitze, dicht gefolgt von dem klapprigen Wagen mit Bernina und Baldus.
Schnell kamen sie weiterhin nicht vorwärts, viele waren zu Fuß unterwegs, auch noch beladen, und das auf hügeligem Gelände. Sie kämpften sich durch die Wälder. Beim Überwinden eines kleineren Flüsschens erfrischten sich Mensch und Tier, was noch mehr Zeit kostete. Doch die Stimmung war gut, als hätte die Unterredung an der Lagerstelle allen gutgetan.
Die Bäume lichteten sich, ein offenes Tal musste fast der Länge nach durchquert werden. Bernina kannte jeden Grashalm, so kam es ihr zumindest vor. Hier war sie aufgewachsen, hier hatte sie als kleines Mädchen herumgetollt. Nicht mehr von den Bäumen geschützt zu sein, trieb die Menschen zur Eile an, doch eine gewisse Müdigkeit machte sich breit, schließlich hatten sie an diesem Tag ein beachtliches Wegstück zurückgelegt.
Das Tal zog sich dahin. Die Sonne büßte an Kraft ein, schon färbte sie sich sanft orange, womit sie das Ende des Tages ankündigte. Jäh stieg das Gelände, nach wie vor völlig offen, steil an. Hinter der nächsten Kuppe würde es wieder abwärts gehen, dann wartete das nächste schützende Waldstück – ein letztes Hindernis, bevor man das abgeschiedene enge Seitental erreichen würde, in dem sich der Petersthal-Hof der Welt entzog.
Bernina sah ihn schon vor sich, seine Gebäude, die Ruhe, die er ausstrahlte. Plötzlich kam es ihr vor, als wäre sie viel länger fort gewesen, Wochen, Monate, als hätte sie eine Reise in ein fernes Land unternommen. In Gedanken begann sie bereits, die kommenden Tage zu planen. Was war am dringendsten zu erledigen? Wohin mit den vielen Menschen? Ein schönes Durcheinander, das würde es geben, keine Frage. Andererseits freute sich Bernina darauf, es war schön, die Luft dieser Täler und Wälder zu atmen und sich auf vertrautem Boden zu bewegen. Und sie freute sich auf die Abende, die Stunden nach Sonnenuntergang, darauf, allein zu sein mit Nils, niemanden sonst zu sehen, nur ihn, die Gespräche mit ihm, mit denen der Tag ausklingen würde – so war es früher gewesen, so würde es erneut sein. Genießen würde sie diese Zurückgezogenheit, auskosten, gerade nach der Enge der Stadt, nach all den furchtbaren
Weitere Kostenlose Bücher