Die Entscheidung der Krähentochter: Historischer Kriminalroman (German Edition)
gefahrvoll ansehen. Aber alle wollten nur noch weg, irgendwo in den Wäldern Unterschlupf finden. Unsere ist die größte Gruppe.«
»Trotzdem verstehe ich nicht«, meinte Norby, »wohin ihr gerade unterwegs seid.«
Verständnislose Gesichter wandten sich ihm zu.
»Ich verstehe vielmehr deine Frage nicht«, entgegnete Lottinger verwirrt. »Wohin wir wollen? Natürlich uns in Sicherheit bringen, natürlich weg von dieser mörderischen Bande. Das ist doch offensichtlich.«
Bernina legte ihre Hand auf Nils’ Oberarm, doch der Ausdruck in seinen Augen sagte ihr, dass er die Berührung kaum wahrnahm. »Dann wundere ich mich darüber, warum wir die Bürgerwehr ins Leben gerufen haben.« Er ließ seine Worte wirken. »Doch wohl allein deshalb, um zusammen den Kampf aufzunehmen. Und nicht, um zusammen die Flucht anzutreten.«
»Es sind über dreißig Mann. Muss ich noch mehr sagen?«, schnarrte Kuntzendorf gereizt.
»Gewiss, über dreißig kampferprobte Männer. Ich habe es inzwischen oft genug gehört. Aber man könnte es auch so sehen: zum Glück nicht mehr. Zum Glück nur eine Horde von Strauchdieben und keine ganze Armee.«
»Ach.« Kuntzendorf winkte ab. »Es können sich noch andere Banden herumtreiben. Wer sagt, dass das die einzige ist? Bei einer Schlacht gibt es jede Menge Auswurf. Je größer die Schlacht, desto größer das Leid, das ihr vorausgeht, und der Kummer, den sie nach sich zieht.«
Norby hob die Augenbrauen. »Wisst ihr nicht mehr, was wir gesagt haben, in den vielen Stunden, in denen wir zusammen waren? Ich habe euch gezeigt, wie man sich im Nahkampf verhält. Ich habe euch erzählt, welche Erfahrungen ich früher machte. Ihr habt Waffen hergestellt, keine Musketen, keine Degen, gewiss nicht, aber nichtsdestotrotz Waffen, mit denen man zuschlagen kann. Viele Bauern, die sich auflehnten, waren schlechter vorbereitet als ihr.«
Als niemand das Wort erhob, fuhr er fort: »Ich erklärte es euch schon einmal. Ihr könnt wie Schafe sein oder wie Wölfe. Nun ja, oder wie die Kaninchen, die ihr jetzt gerade seid – und davonhoppeln.«
»Wir haben Kinder«, betonte Kuntzendorf scharf und versetzte Bernina damit einen tiefen Stich ins Herz. »Wir sind keine ehemaligen schwedischen Offiziere. Wir sind Bauern.«
»Es kommt nicht darauf an, wie ihr euren Alltag bestreitet, sondern wie’s in eurem Inneren aussieht.« Norby schaute sie alle der Reihe nach an, Männer wie Frauen. Die meisten senkten den Blick.
»Das ist nicht so einfach«, meinte Hermann Lottinger verbindlicher.
»Keiner behauptet, dass es einfach ist.«
»Jeder in dieser Runde hat in den vergangenen Jahren Schlimmes erlebt. Jeden von uns hat auf die eine oder andere Art der Krieg erreicht.« Lottinger breitete die Arme aus. »Und ich kann alle verstehen, die es vorziehen, sich in den Wäldern zu verstecken, um darauf zu warten, dass der Sturm vorüberzieht.«
»Verstehen kann ich das genauso«, bemerkte Norby. »Aber erinnert euch daran: Der Sturm kann auch bis in den hintersten Winkel der Wälder vordringen.«
»Das schon«, rief nun wieder Kuntzendorf, »doch die schlimmsten Vorfälle ereignen sich in den Ortschaften. Nicht nur solche wie mit der Weinpresse, von der wir vorhin sprachen.«
Sogleich wurde ihm recht gegeben. Reihum wurden weitere Begebenheiten geschildert, die man selbst gesehen oder von Freunden erzählt bekommen hatte.
»Ich habe genug von diesem fürchterlichen Krieg«, ließ Gertrud Lottinger ihre Stimme nach einer ganzen Weile kummervollen Schweigens ertönen. »Auch ich war dafür, dass wir uns verstecken. Natürlich war ich das – und ich bin es noch immer.« Sie legte den Arm um die zierlichen Schultern ihrer kleinen Tochter. »Und doch platzt mir fast der Kragen, wenn ich daran denke, wie sehr wir alle in der Vergangenheit gelitten haben. Nicht nur fremde Soldaten, auch die Armeen unseres eigenen Kaisers haben die ganze Gegend immer und immer wieder bluten lassen.« Sie hielt inne, blickte auf die Erde. »Manchmal wünsche ich mir nichts sehnlicher, als dass den rücksichtslosen Halunken, die uns heimsuchen, ihre nichtsnutzigen Schädel eingeschlagen werden.«
Jeder ließ das Gesagte auf sich wirken, jeder hing den eigenen Gedanken nach. Es war mittlerweile später Nachmittag. Irgendwo begann ein Specht auf einen Baumstamm einzuklopfen. Das rhythmische Geräusch wirkte lauter, als es in Wirklichkeit war.
»Eigentlich wollten wir um diese Zeit«, meldete sich Kuntzendorf wieder zu Wort, »viel weiter
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