Die Entscheidung
Kinder wollten ihn schneiden, um ihm Blut abzunehmen? Waren in diesem Dorf denn wirklich alle verrückt geworden?
„Ich will mit Johanna reden“, rief George, während die Jungen sich an dem Schloss für das Gitter zu schaffen machten. „Bitte. Lasst mich mit Johanna reden.“
Zuerst fürchtete George, dass die Kinder ihn nicht verstanden hatten, aber auf Isländisch wollten ihm die Worte einfach nicht einfallen.
„Johanna Mirjanasdottier?“, fragte dann endlich einer der Jungen.
„Keine Ahnung“, gab George zu. „Die alte Dame, die mich hergebracht hat.“
„Deine Amma?“, fragte einer der Jungen an den anderen gewandt.
„Ja“, gab der andere zurück. „Sie ist meine Uroma.“
„Meinst du, wir sollten ihr Bescheid sagen?“
„Na ja. Das Schloss kriegen wir eh nicht auf. Das ist bombenfest. Aber ich glaub eigentlich nicht, dass Amma mit dem Abendessen reden sollte. Sie ist immer so leicht zu beeinflussen. Nachher lässt sie ihn wieder raus.“
„Meinst du?“
Der erste Junge zuckte mit den Schultern.
„Möglich wärʼs.“
„Hm. Dann sagen wir ihr lieber nix. Aber was machen wir jetzt?“
„Keine Ahnung. Wobei … Hey, ich hab eine Idee. Wir bringen ihn von oben aus zum Bluten. Dann können wir das Blut zwar nicht trinken, aber immerhin riechen. Das ist doch auch schon mal was.“
George wurde übel.
„Das ist eine ganz blöde Idee“, rief er. „Ich … ich bin Bluter. Wenn ihr mich verletzt, könnte es sein, dass ich daran sterbe. Und dann habt ihr nichts mehr von mir.“
Das war eine glatte Lüge, aber irgendetwas musste er ja sagen, damit sie ihn in Ruhe ließen.
„Stimmt das, was er sagt?“, fragte der Urenkel von Johanna skeptisch.
„Nein“, gab der andere Junge zurück. „Er lügt wie gedruckt. Komm. Wir holen ein paar Stöcke.“
„Was habt ihr euch nur dabei gedacht?“, herrschte Johanna die beiden Jungen an, die vor ihr standen. „Besonders von dir hätte ich mehr erwartet, Janish Viktoriasson.“
Der Junge zog den Kopf ein und machte ein schuldiges Gesicht.
„Aber wir wollten doch nur …“
„Ich weiß genau, was ihr wolltet“, schimpfte Johanna. „Ihr wolltet naschen.“
Wütend sah sie ihren Urenkel an. Er war der jüngste Enkel von ihrer Tochter Anna und sah ihr sehr ähnlich. Die gleichen dunkelblonden Haare. Dieselben blauen Augen. Aber den Charakter hatte er wohl von seinem Vater geerbt. Anna war immer sehr ruhig und besonnen gewesen. Janish hingegen war ein Quatschkopf.
„Wir haben doch gar nichts gemacht“, verteidigte Janishs Freund Krystian sie beide. „Einar hat das vollkommen falsch eingeschätzt.“
Johanna sah zu Janishs älterem Bruder Einar hinüber, der lässig mit den Schultern zuckte, als ginge ihn das alles nichts an. Einar war Anfang zwanzig und damit schon lange über die kritische Phase der Leichtsinnigkeit hinaus. Er schaffte es inzwischen sehr gut sich zu beherrschen, wenn er Blut sah, und war den Älteren somit eine große Hilfe. Nicht mehr lange und er würde das Dorf verlassen, wie fast alle Jungvampire es eine Zeit lang taten. Erst mit dreißig oder vierzig würde er zurückkommen, um ein paar Kinder zu zeugen und seinen Platz im Dorf einzunehmen. So war es immer. Die jungen Leute vermissten irgendwann die Gemeinschaft. Nur die Vollmondnächte hatten dafür gesorgt, dass einige dem Dorf komplett den Rücken gekehrt hatten.
„Ich habe die beiden dabei erwischt, wie sie mit Stöcken nach dem Gefangenen gestochen haben“, sagte Einar. „Unser Festessen zu verängstigen ist nicht besonders nett.“
Johanna betrachtete Einar eingehend. Sie wusste, dass er zurzeit der beliebteste Junggeselle im Dorf war. Sie vermutete, dass er bereits mit den meisten Mädchen und jungen Frauen über sechzehn geschlafen hatte. Einar hatte nie Probleme damit gehabt, eine Bettgefährtin zu finden. Er war ein ungewöhnlich hübscher junger Mann im Vergleich zu seinen Altersgenossen. Er hatte kurze blonde Locken, ein schön geschnittenes Gesicht und einen durchtrainierten Körper. Sein einziger Makel bestand darin, dass seine Augen unterschiedliche Farben hatten, was bei Vampiren noch seltener vorkam als bei Menschen. Sein linkes Auge war grün und das rechte braun. Diese kleine Anomalie machte ihn jedoch eher noch unwiderstehlicher für die Mädchen.
„Warum dürfen wir denn nicht ein bisschen Blut haben?“, fragte Janish quengelig, als ginge es darum, im Voraus ein Stück Kuchen zu bekommen. „Das ist gemein.“
„Nein“,
Weitere Kostenlose Bücher