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Die Entstehung des Doktor Faustus

Die Entstehung des Doktor Faustus

Titel: Die Entstehung des Doktor Faustus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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»Eine Epoche endet. Es wird das Amerika nicht mehr sein, in das wir kamen.«
    Ich nahm teil an der Trauerfeier im Municipal Building von Santa Monica. Die Leitung war geistlich: ein Bischof und ein Rabbi teilten sich in sie, und sogar fiel diesem die Hauptrede zu. Er gestaltete sie zu einer seltsam urtümlichen Klage, einer Art von Wüstengesang, welchem, sobald der Name des Verblichenen fiel, die jüdische Gruppe des Auditoriums mit rituellem Weinen respondierte. Meine eigenen Gedenkworte folgten. Die Rede des Bischofs konnten wir nicht abwarten, da der englische und deutsche Text meines Nachrufs sogleich aufs Telegraphenamt zu bringen war. »Free World« und der »Aufbau« veröffentlichten ihn, und auch in spanischer Sprache erschien er. Ich legte ihn einer meiner letzten Radio-Sendungen nach Deutschland zugrunde, dessen Presse sich in Niedrigkeiten über den großen Gegner ihrer Gebieter ergangen hatte. {493} Gleichzeitig war eine Tischrede vorzubereiten, die ich bei dem Dinner zur Inauguration der von dem Philosophen Will Durant ins Leben gerufenen Interdependence-Bewegung zu halten hatte. Die Veranstaltung fand am 22. April im Hotel Roosevelt, Hollywood, statt. Theodor Dreiser war anwesend. Unterdessen hatte, nach der Einnahme von Weimar, der amerikanische General die deutsche Zivilbevölkerung vor den Krematorien des dortigen Konzentrationslagers defilieren lassen und diesen Bürgern, die nichts hatten wissen wollen, ihr Teil Verantwortung für die dort geschehenen, nun vor aller Welt entblößten Greuel zugesprochen. Die Funde, hier und anderwärts, übertrafen an Scheußlichkeit alle Erwartungen und Vorstellungen. Parlamentskommissionen gingen nach Deutschland ab, um die Delegierten von San Francisco über das Unglaubliche zu unterrichten. Uns, die wir uns früh auf das verstanden, was sich in Deutschland »Der nationale Staat« genannt hatte, war nichts überraschend und nichts unglaublich. Aber die Erregung war groß, und eine deutsche, mit einem amerikanischen Gelehrten verheiratete Frau unserer Bekanntschaft mochte sich tagelang vor Scham nicht in Gesellschaft, kaum auf der Straße sehen lassen. Das Office of War Information verlangte eine Äußerung von mir, und ich gehorchte mit einem Artikel
Die Lager,
der, wie das Amt mir später meldete, gewaltige Verbreitung fand.
    Bei alldem, unter einem Sturz wilder Ereignisse, dem täglichen Hagel abenteuerlicher Meldungen – Mussolini gefangen und kläglich gerichtet; Berlin gänzlich in russischer Hand, auf der Reichstagskuppel die Sowjetfahne; gehäufte Selbstmorde unter den Nazibonzen, die nun ihre vorsorglich verteilten Blausäure-Kapseln zerbissen; Hitler und Goebbels tot und verkohlt, und die englische Presse zitierte: »The day is ours, the bloody dog is dead« – hatte ich, um den Ausdruck des Tage {494} buchs zu gebrauchen, den Roman »wieder geschultert« und schrieb – sogar »fließend« – am XXVI. Kapitel, der Installierung Adrians in Pfeiffering, – tat es auch an dem siebenten Maitage, dessen Eintragung lautet: »Kapitulation Deutschlands erklärt. Die unbedingte Übergabe unter Anrufung der Generosität der Sieger unterzeichnet … Ist dies nun der Tag, korrespondierend mit jenem vor zwölf Jahren, als ich diese Serie täglicher Aufzeichnungen begann, – ein Tag der Erfüllung und des Triumphes? Es ist nicht gerade Hochstimmung, was ich empfinde.
Mit
Deutschland wird dies und das – aber nichts
in
Deutschland geschehen. Die Gehässigkeiten einer gewissen Landsmannschaft hier, eben dieser Überzeugung wegen, tragen das ihre bei, die Freude niederzuhalten. Genugtuung liegt im physischen Überleben. Nach dem Falle Frankreichs vor fünf Jahren ließ Goebbels meinen Tod melden. Er konnte es sich nicht anders denken. Und hätte ich Hitlers Falschsieg ernst, hätte ich ihn mir zu Herzen genommen, so wäre mir in Wahrheit nichts anderes übriggeblieben, als einzugehen. Überleben hieß: siegen. Ich hatte gekämpft und den Lästerern der Menschheit Hohn und Fluch geboten, indem ich lebte: also ist es, auch persönlich, ein Sieg. Vollkommene Klarheit darüber, wem dieser Sieg zu danken. Es ist Roosevelt.«
    Ohne die eingewurzelte, auch zu dieser Zeit standhaft bewahrte Gewohnheit, die Vormittagsstunden zwischen 9 und 12 oder halb 1 Uhr gegen alle Eindrücke von außen abzusperren, sie durchaus und grundsätzlich dem Alleinsein mit meiner Arbeit vorzubehalten, hätte ich es bei so viel äußerem Drange kaum über mich gebracht, an Adrians

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