Die Erben der alten Zeit - Das Amulett (Die Erben der alten Zeit - Trilogie) (German Edition)
sichergehen wollte. Wenn nicht unbedingt nötig, wollten sie nicht die Kälte des Vanaheimwinters zu spüren bekommen.
Bei ihren allmorgendlichen Überprüfungen hatte Charlie verwundert eine Entdeckung gemacht.
Sie konnte nicht nur spüren, wann Regen im Anzug war, sie konnte den Regen auch sehen. Natürlich kann jeder Regen sehen, aber bei Charlie war das anders. Egal wie klein und fein die Regentropfen waren, egal ob es bloß nieselte oder in Strömen goss (seit die große Hitze nachgelassen hatte, regnete es oft), Charlie konnte jeden einzelnen Regentropfen sehen! Wenn sie sich konzentrierte, schien es als würde plötzlich die Zeit stehen bleiben, oder als würde es in Zeitlupe regnen! Es war ihr überlassen. Natürlich regnete es ganz normal weiter, aber für Charlie nicht.
Der Regen in Zeitlupe oder in Standbildern, erlaubte ihr die Größe und Form jedes einzelnen Tropfens zu betrachten. Sie konnte sehen, wie manche Tropfen sich mit anderen vereinigten, auf ihrem Weg zur Erde. Sie sah, wie dicke Tropfen in tausend feinste Tröpfchen zerrissen wurden, wenn sie durch etwas aufgehalten wurden. Durch einen Ast zum Beispiel. Es war faszinierend! Stundenlang hatte Charlie damit verbracht den Regen schnell oder weniger schnell fallen zu lassen. Wie in einem Traum, glitzerte und funkelte es um sie herum, wenn das wenige Licht an einem Regentag sich in den fast stillstehenden Tropfen brach! Einfach fantastisch!
Auch heute nieselte es leise vor sich hin. Während Charlie in ihrem Versteck am Wegesrand ausharrte, übte sie Regentropfen drehen . Ganz aus Versehen war es ihr am Tag zuvor nämlich passiert! Sie hatte einen besonders interessanten, sehr dicken Tropfen im Standbild betrachtet. Er beulte sich in alle Richtungen aus, während sie ihn intensiv beobachtete. Plötzlich fing der Tropfen an, sich um sich selbst zu drehen! Zuerst dachte Charlie, sie hätte aus Versehen ihr Standbild wieder in Gang gesetzt, doch dann sah sie fasziniert, wie bloß der eine einzige Tropfen sich drehte!
Nun, hier im Nieselregen am Straßenrand, versuchte sie wieder ihr Glück. Auf Kommando schien es wesentlich schwieriger zu sein, den kleinen Tropfen vor ihr dazu zu bewegen sich zu drehen! Es wollte nicht so einfach gelingen. Zwischendurch ließ sie es weiter nieseln und betrachtete die Menschenschlange auf der Straße. Das Volk, das vorbei lief, redete über das bevorstehende Fest, über die neue Stadt, die dem alten Bragesholm in nichts nachzustehen schien, über das Wetter, das Essen, darüber, das der Herr von Bilskirne mit seinen beiden Magiersöhnen Tor und Heimdall vermutlich ebenfalls da sein würde, über die Ernte und natürlich nicht zuletzt über Odens strenge Herrschaft und all das Leid, das er über das Volk brachte.
Charlie bekam natürlich bloß Bruchstücke jeder Unterhaltung mit. Es war fast wie in der Einkaufsstraße in Lillby. Wenn man sich auf eine Bank setzte und dem Menschengewirr zusah, hörte man sie über Familie, Beruf, Schule, Wetter, Politik und Essen reden. Es war überall das gleiche. Mit dem kleinen Unterschied, dass hier jede Menge dieser grünen Rennspinnen über den Waldboden huschten und der Wald um sie herum hüstelte und schniefte.
Diese Rennspinnen gab es auf d em flachen Land überall. Gymers-Berg mieden sie allerdings immer noch. Charlie hatte dort noch nie welche gesehen. Offenbar mochten sie keine bergige Landschaft.
Charlie seufzte. Hoffentlich würde sich bald eine Lücke ergeben! Charlie hatte wenig Lust noch mehrere Stunden hier zu sitzen. Sie wollte wieder zur Höhle. Es war Mittagszeit und sie hatte Hunger. Aber um nach Hause zu kommen, musste sie den Weg vor sich überqueren. Hätte sie gewusst, dass hier so viel los ist, wäre sie noch vorsichtiger gewesen!
Charlie durchforstete ihre Mantel-und Hosentaschen nach etwas Essbarem, obwohl sie sich ziemlich sicher war, nichts dergleichen zu finden. Sie stieß auf allerhand Dinge, zum Beispiel auf ihr Messer und die Reisenotfallapotheke. Sie hatte sich zur Gewohnheit gemacht, auf ihren Streifzügen eine kleine Apotheke dabeizuhaben. Man konnte ja nie wissen. Zu viel wollte sie nicht mitschleppen, also beschränkte sie sich auf das Nötigste - Blauspray zum Desinfizieren, einige Bandagen (beides aus Jonas Fahr-Apotheke) und einige auserwählte Heilkräuter, sowie ein weißgraues Pulver, das laut Tora Blutungen stoppte und Schmerzen linderte. Es war feingemahlener Nidhöggseckzahn, den sie per Zufall eingeklemmt zwischen zwei
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