Die Erben der alten Zeit - Der Thul (German Edition)
Sie verfolgte jeden Schritt ihres Bruders Kunar, der soeben einen gekonnten Angriff von Biarn geschickt abwehrte.
Die Waffen, etwa 1,5 Meter lange Holzstöcke, schlugen hart aufeinander, und beide Männer kämpften darum, die Oberhand zu gewinnen. Den Altersunterschied von etwa zwei Jahren sah man Kunar kaum an. Nur wenig kleiner als Biarn, war er durchtrainiert, sehnig und sehr schnell. Das Leben in der freien Natur hatte ihn früh zu einem Mann geformt. Von den schlaksigen, unproportionierten Formen, die man oft bei Jugendlichen im Alter von 16 Jahren fand, war bei Kunar nichts zu sehen. Er kämpfte konzentriert und zielbewusst, was es auch einem erfahrenen Mann wie Biarn durchaus schwer machen konnte.
»Erholt euch!«, hatte Biarn zu Tora und Charlie gesagt, bevor er und Kunar den Kampf aufnahmen. Charlie sah an sich herab. Sie zählte mindestens zehn neue blaue Flecken, die ihr Tora mit dem Stock verpasst hatte. Der einzige Trost war, dass Tora genauso bunt aussah wie sie selbst. Charlie rieb sich den Ellenbogen, der wie nach einem elektrischen Schlag kribbelte. Dann widmete sie sich wieder dem Zweikampf, der soeben eine Wendung nahm.
Biarn schnellte herum, traf Kunar hart in die Kniekehlen, sodass dieser das Gleichgewicht verlor und sich mit einem verzweifelten Hechtsprung nach vorne zu retten versuchte. Biarn nutzte diesen Moment, wirbelte herum, presste Kunar den Stock in den Nacken und griff sich mit einer schnellen Handbewegung das Tau, das aus Kunars Hose hing. Der Kampf war beendet. Kunar stützte sich keuchend auf sein Kampfholz und strich sich seine halblangen, dunklen Haare zurück. Er rieb sich die Kniekehle und forderte grimmig eine Revanche.
Biarn lachte und warf Kunar das Tau zu. Biarn war ein Raidho, ein Magier der vier Elemente. Er war groß, stattlich, hatte lange, blonde Haare, eine markante Kieferpartie und einige Sommersprossen auf der etwas zu großen Nase.
»Das war wirklich gut gekämpft«, sagte er, während Kunar sich das Tau in seinen Hosenbund steckte und sich für die zweite Runde bereit machte. »Du hattest ein paar sehr gute Paraden, die ich nicht erwartet hatte.«
Kunar nickte kurz. Er war bereit. Nach einem Händedruck und einer knappen Verbeugung nahmen sie ihre Kampfpositionen ein. Bald darauf krachten die Stöcke aufeinander.
Charlie versuchte die verschiedenen Techniken zu verfolgen und zu verstehen, um sie später nutzen zu können. Gar nicht einfach, denn die Bewegungsabläufe waren schnell und oft überraschend.
Dafür, dass Charlie vor nicht einmal vier Monaten beinahe die Pforte zu Hels Reich durchschritten hätte, war sie erstaunlich fit. Vor zwei Monaten war sie aus dem heilenden Schlaf erwacht, in den die Schwarzelfen sie versetzt hatten. Sobald sie ohne Stock gehen konnte, bestand Biarn auf täglichem Training. Nichts wäre besser geeignet, die Lebensgeister neu zu erwecken als körperliche Anstrengung, sagte er. Und was konnte da besser sein als regelmäßige Zweikämpfe, die Geschicklichkeit, Ausdauer und Kraft erforderten?
Biarns Training nannte sich Glimakampf . Er wurde seit Urzeiten in der nordischen Kultur ausgetragen. Glima bedeutete so viel wie Freude. Ursprünglich bestand der Glimakampf laut Biarn lediglich aus Tors Ringkampf, eine Art Sumoringen ohne Kampfzirkel. Zu Tors Ringkampf hatten sich so nach und nach eine Vielzahl anderer Zweikämpfe gesellt, die schließlich alle unter dem Namen Glimakämpfe zusammengefasst wurden. Bei dem Kampf mit den Hölzern ging es darum, dem Gegner den Schwanz abzujagen – ein aus Seidenspinnergarn hergestelltes Stück Tau.
Dieser Zweikampf nannte sich der Schwanz der Bestla. In den vergangenen Wochen hatte Charlie hart trainiert, und so waren ihre Kräfte zurückgekehrt. Bevor Oden sie fast umgebracht hatte, war sie in Höchstform gewesen. Genauso wie bei Kunar hatte die tägliche Jagd mit ihren ausgedehnten Pirschgängen sie in Top-Form gebracht. Eine gute Voraussetzung, schnell wieder zu Kräften zu kommen.
Die lange Zeit, die sie und ihre Freunde im Schutze der Schwarz-elfen verbracht hatten, war mit Arbeit ausgefüllt gewesen. Diese bestand nicht nur aus Kampftraining. Biarn setzte auch Charlies Unterricht fort.
Charlie besaß magische Fähigkeiten. Das war ihr noch vor einem Jahr völlig unbekannt gewesen. Hätte ihr damals jemand erklärt, dass sie sich wenige Monate später mit magischen Kräften befassen würde, die sie aus den Elementen der Erde – Bjarka – und des Wassers – Lagu – schöpfen
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