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Die Erben der alten Zeit - Der Thul (German Edition)

Die Erben der alten Zeit - Der Thul (German Edition)

Titel: Die Erben der alten Zeit - Der Thul (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marita Sydow Hamann
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Bild eines jungen Mannes mit traurigen Augen, die sich langsam mit Tränen füllten, glitt durch ihr Bewusstsein.
    Ja, es war durchaus möglich, aber …
    »Dieser Dolch«, fragte Charlie langsam. »Woher hast du ihn?«
    Ragnars Blick wurde hart, doch sie erkannte den Schmerz, der sich dahinter verbarg.
    »Das geht dich nichts an!«, wehrte er ab.
    »Ich verstehe. Dann werde ich dir erzählen, woher er stammt«, sagte Charlie. »Du hast ihn von deinem Vater bekommen«, begann sie.
    Ein Schatten fuhr über Ragnars Gesicht, doch er schwieg weiter.
    »Und dein Vater hat ihn von seinem Vater bekommen, und der wiederum von deinem Urgroßvater.«
    Charlie ließ die Bilder der Nornenvision vorüberziehen.
    »Dieser Dolch ist seit vielen, vielen Jahrhunderten, von Generation zu Generation weitergegeben worden. Möglicherweise sogar seit Jahrtausenden.«
    Der Geschichtenerzähler blieb stumm, doch etwas rührte sich in seinen abweisenden blauen Augen.
    »Dein Vater war sehr krank, als er dir diesen Dolch übergab, und du warst noch jung. Sehr jung …«
    Sie dachte an den Jüngling mit den langen, braunen, leicht gelockten Haaren, der seinen offenbar todkranken Vater zurücklassen musste. Jetzt trug Ragnar seine braunen Locken zu einem Schwanz gebunden.
    »Du hast deinen Vater sehr geliebt, doch er musste dich fort-schicken, nicht wahr? Welche Verpflichtung haftet an diesem Dolch, dass ein Sohn dafür seinen sterbenden Vater zurücklässt?«, fragte sie so leise, dass es kaum hörbar war.
    Mit einer unglaublich schnellen Bewegung zog Ragnar den Dolch und hielt ihn Charlie an den Hals. Zorn sprühte aus seinen blauen Augen. Er zitterte.
    Charlie rührte keinen Muskel, Kunar dagegen sprang auf, legte mit aus jahrelanger Routine gewonnener Schnelligkeit einen Pfeil auf die Bogensehne und richtete ihn auf Ragnars Rücken.
    »Wenn du ihr auch nur eine Schramme verpasst, bist du tot!«, drohte er.
    Charlie schluckte. In Ragnars wildem Blick las sie Verwirrung, Unsicherheit und auch Ratlosigkeit. Diese Gefühle schienen nichts mit Kunars Drohung zu tun zu haben, sondern ausschließlich mit dem Dolch und seinem Geheimnis.
    Ein Geheimnis, das es galt, unter allen Umständen zu bewahren! Ein Geheimnis, für das sein Vater ihn gezwungen hatte, ihn allein und todkrank zurückzulassen …
    Vermutlich hatte Ragnar Kunars Drohung nicht einmal wahrgenommen.
    »Ragnar …«, begann Charlie vorsichtig. »Ich bin nicht dein Feind. Ich habe das alles in einer Nornenvision gesehen«, sagte sie so ruhig wie möglich, während Ragnar über ihr kniete und ihr weiterhin die Klinge an den Hals drückte.
    Die Zeit schien stehenzubleiben. Sie sahen sich an – der einsame Wolf und das Mädchen aus einer anderen Zeit.
    Aus einer Zeit, aus der auch der Dolch stammte, das wurde Charlie in diesem Moment bewusst. Sie konnte in Ragnars Augen lesen, was er in diesem Moment dachte.
    Wer ist dieses Mädchen, das so viel weiß?
    »Ich weiß nicht, wer ich bin«, flüsterte sie. »Aber es gibt ganz bestimmt einen guten Grund dafür, dass gerade ich diese Information von den Nornen erhalten habe …«
    Sie sprach so gedämpft, dass nur Ragnar sie verstehen konnte. Hinter seinen Gesichtszügen arbeitete es. Charlie fühlte, wie er sich mit der Tatsache abzufinden begann, dass sie unvermeidlich mit seinem Schicksal verbunden war – dass sie der Schlüssel zu einer neuen Welt war.
    Der Schlüssel zur alten Zeit …
    Charlie holte tief Luft, dann hob sie die Hand und schob den Dolch entschlossen zur Seite.
    Sie ließ Ragnar dabei nicht aus den Augen.
    Er seufzte und kniete eine Weile unschlüssig vor Charlie.
    »Sag mir, dass ich das Richtige tue«, flüsterte er.
    »Das kann ich nicht«, erwiderte Charlie ernst.
    Ragnar erhob sich langsam.
    »Ich möchte nicht über den Dolch sprechen«, sagte er bestimmt. »Noch nicht.« Er setzte sich etwas abseits ins Gras und starrte hinaus in die Dunkelheit.
    Charlie schlief schlecht in dieser Nacht. Sie träumte von Ragnars mattgrün schimmerndem Dolch, der von älteren Männern an jüngere Männer weitergegeben wurde – immer wieder und immer schneller, bis ein grüner Blitz Charlie hochschreckte. Als sie wieder einnickte, sauste der Dolch plötzlich durch die Luft auf einen Steinbruch zu, wo Irminsul aus der Erde wuchs.
    Der Dolch bohrte sich in den Fels und blieb bis zum Heft in dem grünen Gestein stecken. Eine Flüssigkeit quoll langsam aus der Einstichstelle hervor …
    Es war rot wie Blut!
    Plötzlich fand sich Charlie

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