Die Erben der Nacht 04 Dracas
frohlockte Marie Luise.
»Was ist das?«
»Eine Haarlocke von Ivy-Máire, die ich ihr gestern abgeschnitten habe, als sie bei der Anprobe ihres Ballkleides so abgelenkt war, dass sie nichts bemerkt hat.«
Unwillkürlich griff sich Ivy an den Hinterkopf und stöhnte. Wie hatte ihr das passieren können? Wo war sie mit ihren Gedanken gewesen und was hatte Seymour getan, dass auch ihm nichts aufgefallen war? Natürlich. Er war aus dem Zimmer geschickt worden, um den Schneider und seine Mädchen nicht zu beunruhigen.
»Ihr könnt es gerne nachprüfen. Ihr fehlt heute Nacht kein einziges Haar, denn es ist in den wenigen Stunden nachgewachsen. Sie ist nur eine Unreine, daran besteht kein Zweifel.«
Ivys Finger tasteten über ihr volles, unversehrtes Haar. Natürlich. Marie Luise hatte recht. Eine Erinnerung stieg in ihr auf. Rom. Das erste Jahr der Akademie. Schon damals war ihr eine Haarsträhne fast zum Verhängnis geworden. Damals war es Franz Leopold gewesen, der unwissentlich beinahe ihr Geheimnis verraten hätte. Über Monate war sie gezwungen gewesen, jeden Abend als Erstes eine Strähne abzuschneiden und dann unauffällig verschwinden zu lassen. Und dennoch waren Luciano damals schon die kleinen Unterschiede aufgefallen und er hatte seine Schlüsse gezogen. Bei dem Gedanken an den Nosferas huschte ein Lächeln über Ivys Gesicht. Wie sehr er innerlich und äußerlich gewachsen war. Wie treu er ihr als Freund zur Seite stand!
Die Baronesse sagte noch immer nichts. Vielleicht saß sie dort drin, starrte auf die silberne Haarlocke und überlegte, was sie angesichts dieses unumstößlichen Beweises nun mit der Verräterin machen sollte.
»Was werdet Ihr nun tun?«, erkundigte sich Marie Luise, offensichtlich enttäuscht von der Reaktion der Baronesse.
»Das muss ich ganz sicher nicht mit dir besprechen.«
»Aber Ihr werdet doch etwas unternehmen? Ihr müsst sie für diese Täuschung hart bestrafen. Ihr müsst sie in Schande hinauswerfen und mit ihrer wilden Bestie davonjagen. Und die Lycana, sie müssen erfahren, dass sich die Dracas nicht ungestraft täuschen lassen.«
»Raus jetzt! Ich werde etwas unternehmen, wenn ich es für richtig halte, und nur dann. Das Ganze geht dich nichts mehr an. Du wirst jetzt deinen Pflichten nachkommen und dich nicht weiter darum kümmern. Und ich verbiete dir, es irgendjemandem gegenüber zu erwähnen.«
»Wie Ihr wünscht, Baronesse Antonia«, antwortete Marie Luise in schnippischem Ton.
Rasch zog sich Ivy in das benachbarte fensterlose Ankleidezimmer zurück. Sie hörte Marie Luises Ballkleid rascheln, als diese hinausrauschte. Ivy wartete eine Weile, ehe sie ihr lautlos folgte. Vor der nun angelehnten Tür verharrte sie noch einen Augenblick. Sie versuchte, die Gedanken der Baronesse aufzufangen, drang aber nicht zu ihrem Geist durch. Natürlich. Sie gehörte zu den Dracas, deren geistige Fähigkeiten am weitesten entwickelt waren, und hatte gelernt, sich gegen solche Angriffe zu schützen. Ivy fing lediglich ihre Stimmung auf. War das Besorgnis? Seltsam. Das war das letzte Gefühl, das Ivy erwartet hätte. Sie bohrte etwas tiefer. Ja, da war Zorn, doch nein, er richtete sich gegen Marie Luise und ihre Neugier, nicht gegen die Lycana. Nun verstand Ivy überhaupt nichts mehr. Sie spürte, dass sich die Baronesse näherte, und machte sich rasch davon.
Der Rest der Nacht verlief wie im Rausch. Sie traf auf Luciano, der von einer Wolke aus Verzweiflung umgeben schien. Ivy versuchte ihn zu trösten, obgleich sie zugeben musste, nicht ganz bei der Sache zu sein.
»Hindrik ist bei ihr. Mach dir keine Sorgen. Wir können jetzt nicht weg. Es wird alles gut. Morgen werden wir nach ihr sehen.«
Sie ergriff seine Hand und sah ihm in die Augen. Der tiefe
Schmerz in ihnen erstaunte und rührte sie. Wie glücklich durfte sich Clarissa schätzen, so geliebt zu werden - und doch war es diese Liebe gewesen, die sie ihr Leben gekostet hatte. Nun wartete etwas anderes auf sie. Ein Dasein in kalter Dunkelheit - doch war ihr nun nicht Luciano Licht und Wärme? Wenn sie es zuließ. Wenn sie ihm verzieh. Ivy hoffte für beide, dass er nicht gezwungen sein würde, sie gegen ihren Willen bei sich zu behalten. Denn sie wusste, dass sich nicht alle Servienten von Anfang an demütig in ihr Schicksal fügten.
Luciano ging davon, um mit seiner Cousine am nächsten Kotillon teilzunehmen. Ivy trat zu Alisa. »Du tanzt heute Abend nicht?«
»Nur wenn es sein muss.« Sie zog eine Grimasse. »Ich
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