Die Erben der Nacht 04 Dracas
habe erst mit Sören und dann mit Luciano getanzt, um ihn ein wenig abzulenken, aber sehr erfolgreich war ich damit nicht. Ich habe ihn zwei Mal dabei erwischt, wie er sich davonschleichen wollte, aber die beiden Servienten am Tor befolgen ihre Anweisungen und lassen in dieser Nacht keinen der Erben hinaus. Ich hätte ihn ja begleitet, um ihm und Clarissa bei ihrer Wandlung beizustehen. Wobei ich ehrlicherweise zugeben muss, dass ich einfach unglaublich neugierig bin, wie das vonstatten geht.«
»Schmerzhaft«, antwortete Ivy trocken. »Glaube mir, für Luciano ist es besser, dass er es nicht sieht. Es gibt nichts, was er in diesen Stunden für sie tun könnte, und ich fürchte, nicht einmal Clarissas Liebe ist in dieser Phase stark genug, dass sie ihn nicht dafür verflucht, was er ihr angetan hat.«
Die Nacht ging zu Ende. Die Gäste begannen, sich zu verabschieden. Die, die dem Champagner so sehr zugesprochen hatten, dass sie nicht mehr alleine gehen konnten, wurden von ihren Dienern in ihre Kutschen verfrachtet, wo sie einfach einschliefen. - Oder war nicht allein der Champagner an ihrem Zustand schuld? Vielleicht bei manchen. Ein Hauch von frischem Menschenblut schwebte durch das Palais Coburg. Ein paar Dracas hatten sich offensichtlich nicht die ganze Nacht über zurückhalten können oder wollen. Na, solange nicht irgendwo ein paar Leichen zurückblieben. Heute vermutlich nicht. Ivy war sich allerdings sicher, dass dies vor dem Pakt, den die Clans geschlossen hatten, nicht gerade selten vorgekommen
war. Auch wenn man es vermutlich vermieden hatte, sich an den Mitgliedern der höheren Gesellschaft zu vergreifen, deren plötzliches Fehlen zu große Aufmerksamkeit erweckte.
Der Gedanke brachte sie wieder zu Clarissa zurück. Sie war eine Tochter aus dem Haus Todesco. Zwar spottete die Gesellschaft und die Presse über die mangelnde Bildung ihres Vaters, dennoch gehörte die Bankiersfamilie zum angesehenen Geldadel der Ringstraßengesellschaft, auf die selbst der Kaiser sein Augenmerk richtete - natürlich, er brauchte ja ihr Geld. Wie würden sie auf das Verschwinden der Tochter reagieren? Was würde die Kriminalpolizei unternehmen? Ivy konnte nur hoffen, dass sowohl die Familie als auch die Polizei zu dem Ergebnis kam, sie sei mit ihrem Liebhaber durchgebrannt. Ob ihre Eltern jemals darüber hinwegkommen würden?
Und Clarissa? Würde sie nach ihrer Wandlung noch das Bedürfnis verspüren, mit ihrer Familie Kontakt aufzunehmen? Solche Fälle gab es. Nicht häufig, denn zumeist ging der größte Teil der alten Persönlichkeit verloren. Aber es gab auch Vampire, die sich noch lange ihrem menschlichen Dasein verbunden fühlten. Sie litten unter der Zerrissenheit, die sie zu verzehren drohte, bis schließlich Stück für Stück über Jahre hinweg ihr altes Ich starb. Sie konnte für Clarissa nur hoffen, dass ihr dieser langsame Tod erspart blieb.
Endlich war das Fest vorbei. Der letzte Fiaker rollte davon. Ivy fühlte sich ausgelaugt, als sie die Treppen zu ihrem Zimmer unter dem Dach hinaufstieg. Alisa war schon da und ließ sich aus ihrem Ballkleid helfen. Seymour saß neben ihr und richtete nun seinen Blick auf Ivy. Während sich die Lycana entkleiden ließ, teilte sie mit Seymour ihre Gedanken.
Verstehst du ihre Reaktion? Haben wir die Baronesse falsch eingeschätzt? Sie ist eine Dracas! Wie kann das sein?
Auch Anna Christina hat sich geändert und stand den anderen Erben in der Not bei, erinnerte Seymour. Vielleicht ist in der Tiefe vieles nicht, wie es an der Oberfläche scheint.
Vielleicht, räumte Ivy ein. Und dennoch werde ich den Verdacht nicht los, dass noch etwas ganz anderes dahintersteckt.
Für heute jedenfalls bist du der drohenden Gefahr entkommen und darfst dich ohne Sorge zur Ruhe legen, sagte Seymour sanft.
Ja, vielleicht hat der tödliche Pfeil sein Ziel verfehlt. Vielleicht ist er nur ein wenig langsamer, als wir dachten. Ändern können wir es nicht. Es bleibt uns nur, uns dem Schicksal zu stellen, wenn es uns ereilt.
Ich weiß, zum Weglaufen ist es nun zu spät. Auf solch eine Torheit wartet der Meister sicher schon.
Ivy wünschte Alisa eine ungestörte Ruhe und legte sich in ihr Bett. Die Hände vor der Brust gefaltet, erwartete sie die Starre, die ihre Gedanken zur Ruhe bringen würden. Das Letzte, was in ihr Bewusstsein vordrang, war seine Stimme. Und ihr Leib bebte unter seiner Macht.
Ivy, endlich ist es so weit! Das Warten ist vorbei. Die Jahre der Ungewissheit und der Qual
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