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Die Erben der Nacht 04 Dracas

Die Erben der Nacht 04 Dracas

Titel: Die Erben der Nacht 04 Dracas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schweikert Ulrike
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liegen hinter uns. Ich bin hier. Ganz in deiner Nähe, aber das hast du längst gespürt. Ich habe dich in meinen Gedanken gesucht, seit ich Braşov hinter mir gelassen habe. Du ahnst noch immer nicht, was dich erwartet? Dann will ich die Spannung noch ein wenig länger erhalten. Schlafe nun und lass die Gedanken in die wohlige Finsternis hinabfallen. Und wenn du wieder erwachst, freue dich. Denn bald schon wirst du vor mir stehen. Und dann gibt es nichts mehr, was uns trennt.

    Hindrik saß die ganze Nacht neben dem geöffneten Sarg, den sie aus der Michaelergruft geholt hatten. Er selbst hatte in dem zweiten daneben geruht. Er verspürte Hunger, wagte aber nicht, sich auch nur für einige Minuten zu entfernen. Es war Alisas Wunsch und er hatte ihr sein Wort gegeben, Clarissa nicht einen Augenblick alleine zu lassen. Was war schon eine Nacht des ungestillten Hungers in seiner Ewigkeit?
    Lange schon hatte er aufgehört, seine Jahre zu zählen. Und dennoch waren seine Erinnerungen noch immer frisch. Damals, als er ein Mensch gewesen war, hatten die Männer noch Schleifen in ihrem langen, gelockten Haar getragen, Juwelen funkelten in den Halsbinden, der Brokat der langen Röcke war üppig mit Gold oder Silber bestickt. Herren trugen Kniehosen und seidene Strümpfe zu ihren Schnallenschuhen. Die verschwenderische Pracht an
den Fürstenhöfen war unbeschreiblich, denn jeder wollte mit dem prächtigsten aller Juwelen wetteifern: Versailles, das zum Inbegriff absolutistischer Herrschaft geworden war. Ein immerwährendes Fest, während das Volk litt und hungerte. Aber war das nicht schon immer so gewesen? Hatte sich überhaupt etwas geändert? Saßen nicht auch die Habsburger hier in ihrer Hof burg oder in Schönbrunn, der Hofadel und die Geldbarone in ihren Palais, schmausten und feierten und verschlossen die Augen vor dem Elend, das rund um Wien direkt hinter dem Linienwall begann? Wo die Menschen um das tägliche Brot kämpften, wo sie arbeiteten, bis ihr Körper ihnen den Dienst versagte, und doch froh sein konnten, überhaupt ein paar Münzen zu verdienen und vielleicht ein Dach über dem Kopf zu haben - das sie dann mit unzähligen anderen teilten. Jedes Fleckchen Boden taugte noch dazu, einen Schlafgänger aufzunehmen, um die verbrecherischen Mieten für die Löcher zu bezahlen, die die Bezeichnung Wohnung eigentlich nicht verdienten. Und in das noch warme Bett zog einer der Nachtarbeiter ein, um Kräfte für seine nächste Schicht zu sammeln. Nichts war in Wien so begehrt und unerschwinglich wie Wohnraum und so verfügte ein Bewohner in den Vororten oft nicht einmal über so viel Platz, wie die Justizbehörde jedem Verbrecher im Gefängnis zusprach.
    Hindrik hatte in seinem menschlichen Leben nicht zu den Privilegierten gehört, die Seidenhosen trugen. Nach der Mühsal seines Lebens schien ihm sein neues Dasein in der Finsternis zu Beginn einfach nur leicht und frei. Wie aber würde Clarissa aus dem reichen Hause Todesco empfinden?
    So saß Hindrik reglos da, lauschte den gedämpften Geräuschen, die von beiden Enden des Lüftungsganges zu ihm hereinwehten, und betrachtete das tote Mädchen zu seinen Füßen. Ja, noch war sie tot. Es hatte noch nicht begonnen. Ihre Seele hatte sich verabschiedet und nur den Körper zurückgelassen. Wunderschön mit dem regelmäßig geschnittenen, schmalen Gesicht, das so blass war, als wäre die Wandlung schon vollzogen. Die Wimpern waren ausdrucksvoll lang und dicht und verhüllten die Augen, deren letzter Ausdruck in ihrem Leben Schmerz gewesen war. Kein körperlicher Schmerz. Seelische Qual. Vielleicht eine Vorahnung des Verrats,
den ihr Geliebter an ihr begangen hatte, dem sie doch so blind vertraut hatte.
    Sie trug noch immer das zart fliederfarbene Nachtgewand, das sich um ihren schlanken Mädchenkörper schmiegte. Das kastanienbraune Haar lockte sich um Hals und Schulter bis hinab zu ihrer schmalen Taille. Ja, Hindrik konnte verstehen, warum Luciano sich in dieses Mädchen verliebt hatte. Dennoch fühlte er Bedauern. Es würde nicht einfach werden. Weder für den Nosferas noch für Clarissa. Es war wohl nur eines der Märchen, an welche die Menschen so gern glaubten, dass Liebe den Tod überdauern konnte.
    Eine Ratte huschte vorbei. Sonst regte sich nichts. Hindrik spürte den kühlen Luftzug vom Hofgarten her, angesogen von der sich im Schein der unzähligen Gaslichter nun rasch erwärmenden Luft im Opernhaus, die an den prächtig gekleideten Menschen emporstieg und dann

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