Die Erben der Nacht 04 Dracas
denn ich wollte dich nicht unnötig aufregen. Ich hätte das Problem schon beseitigt. Zweifelst du an mir?«
»Nein, aber es ist nicht an dir, so etwas zu entscheiden, und du hättest es nicht vor mir geheim halten dürfen«, beharrte der Baron. »Jedenfalls steht meine Entscheidung unumstößlich fest. Die Lycana verlässt noch in dieser Stunde das Haus! Und nun lass mir meinen Mantel bringen. Ich möchte nicht erst nach dem ersten Akt im Theater eintreffen. Wirst du mich begleiten?«
Die Baronesse lächelte abfällig. »Nein, danke. Im Ringstraßentheater sitzt mir zu viel Pöbel im Parkett. Das mag für die fremden Erben angehen. Ich ziehe das Burgtheater oder die Hofoper vor.« Und damit stolzierte sie hinaus.
Noch einmal fixierte der Baron die Lycana.
»Deine Zeit läuft ab. Danke mir für meine Großmut, und dann geh mir aus den Augen.«
Ivy verzichtete auf eine weitere Verbeugung und lief hinaus. Sie rannte die Treppe zu ihrer Schlafkammer hinauf. Seymour folgte ihr in großen Sätzen.
Was hast du vor?
Es jedenfalls nicht darauf ankommen zu lassen, ob der Baron bereit ist, zuzustechen oder nicht.
Ich würde ihn zerfleischen!
Und all die anderen Dracas auch? Nein, es wird meinetwegen kein Blutbad geben.
Was hast du vor?, fragte Seymour noch einmal, der hinter ihr in die Kammer stürzte.
Ich werde versuchen, das Haus am Rabensteig zu erreichen. Vielleicht gelingt es mir, ehe der Meister merkt, dass ich nicht bei den anderen Erben bin. Und dann sehen wir weiter.
Sie riss ihre Garderobe für den Theaterabend herunter und schlüpfte in das gewohnte silberne Gewand, das sie bei ihrer Ankunft getragen hatte. Mit ein paar Handgriffen stopfte sie ihre wichtigsten Habseligkeiten in einen Beutel.
Deine Freunde werden versuchen, dich zu beschützen. Und sie werden dabei in Gefahr geraten.
Ivy hielt für einen Moment inne. Ihre Miene war gequält. Ich weiß. Du meinst also, ich solle mich ihm einfach ausliefern und abwarten, was er mit mir vorhat?
Nein, das meine ich nicht, knurrte der Wolf. Wenn Freunde einem nicht in höchster Not beistehen und bereit sind, ihr Leben dafür aufs Spiel zu setzen, wozu hat man sie dann? Nun können sie zeigen, was in ihnen steckt - unterschätze sie nicht. Jeder von ihnen ist auf seine ganz eigene Art für Überraschungen gut und wer weiß, vielleicht reicht das ja, um den mächtigen Schatten zu vertreiben.
Ivy umarmte den Wolf. »Danke, dass du mir Mut machst. Und nun lass uns gehen.« Sie versuchte zu verdrängen, dass Seymour vor ein paar Nächten noch ganz anders gesprochen hatte.
Sie erreichten das Vestibül gerade, als die Kutsche in der Einfahrt hielt und der Schatten des Barons ihm den Schlag öffnete. Ohne
den Dracas eines Blickes zu würdigen, trat Ivy auf die Seilerstätte hinaus. Der Wagen rollte an ihr vorbei. Misstrauisch ließ sie den Blick schweifen und richtete ihre Sinne auf die Schwingungen der Macht, doch sie konnte den Schatten nicht entdecken. Nein, er lauerte nicht hier in der Nähe. Vielleicht hatte sie wirklich Glück. Sie machte gerade den ersten beherzten Schritt, als die Baronesse durch das offene Tor auf die Straße eilte und nach ihrem Handgelenk griff. Erstaunt sah Ivy sie an.
»Warte. Das kann ich nicht zulassen.«
»Was wollt Ihr dagegen tun? Mich im Palais verstecken? Gegen den ausdrücklichen Befehl Eures Bruders? Ich fürchte, das würde nicht lange gut gehen und mich am Ende den Kopf kosten.«
Die Baronesse ließ nicht locker. »Du kannst aber auch nicht alleine durch Wien streifen oder dich auf eigene Faust nach Irland aufmachen. Das wäre viel zu gefährlich.«
Ivy fragte sich, warum sich die Baronesse darüber Gedanken machte. Konnte es ihr nicht gleichgültig sein, was aus ihr wurde? Aus der unreinen Lycana, die die Dracas betrogen hatte? Und von welchen Gefahren sprach sie? Ivy wusste, dass es wirklich eine tödliche Gefahr für sie gab, doch davon konnte die Baronesse nichts ahnen. Woran dachte sie also? Sie hatte doch nun mitbekommen, dass Ivy nicht erst dreizehn oder vierzehn Jahre alt war. Also musste ihr auch klar sein, dass sie über mehr Kräfte und Erfahrung verfügte, als ihr mädchenhafter Körper es erahnen ließ.
»Sei nicht so stur. Lass mich dir helfen!«
»Weshalb? Was kümmert Euch mein Schicksal?«, fragte Ivy direkt und sah sie scharf an, um abschätzen zu können, ob sie die Wahrheit sprach. Ihre Gedanken zu lesen, gelang ihr leider nicht.
Die Baronesse sah ihr in die Augen. »Ich will nicht, dass dir
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