Die Erben der Nacht 04 Dracas
gesehen. Sie ist wundervoll. Und dennoch …«
Ármin Vámbéry nickte. »Und dennoch ist es seltsam, dass ein Kaiser, der 1848 nicht gerade zimperlich mit seinen Aufständischen im eigenen Land umgegangen ist, sich einen Mann für seinen Palastbau sucht, der als Revolutionär und Haupträdelsführer in seiner Heimat steckbrieflich gesucht wird!«
»Gesucht wurde«, verbesserte Bram. »Soweit ich weiß, ist er vergangenes Jahr in Rom verstorben. Ich denke, Freiherr von Hasenauer wird den Bau nun vorantreiben. Weit sind sie ja noch nicht gekommen«, bemerkte er mit einem Blick auf die riesigen Baugruben.
»In der Tat«, bemerkte Vámbéry. »Seit meinem letzten Besuch hat sich kaum etwas verändert. Ich habe gehört, dass sie große Schwierigkeiten mit dem Fundament haben, was mich nicht verwundert. Und auch sonst niemanden, der sich ein wenig mit der Historie befasst.«
»Was ist denn mit dem Untergrund nicht in Ordnung?«, wollte Latona wissen. »Hier muss sich doch außerhalb der Mauer das Glacis als freies Schussfeld entlanggezogen haben.«
Der ungarische Professor nickte. »Das schon. Aber auf diesen Abschnitt konzentrierte sich der Angriff der Türken im Jahr 1683. Sie gruben zahllose parallel angelegte Laufgräben durch das Glacis und von dort aus Tunnel bis unter die Löwel- und die Burgbastei, um diese zu sprengen und so in die Stadt zu gelangen. Den Wallschild zwischen den Basteien konnten sie schließlich durch eine Sprengung zum Einsturz bringen und vermutlich wäre die Stadt bald in ihre Hände gefallen, wären nicht die alliierten christlichen Truppen unter dem polnischen König Sobieski rechtzeitig eingetroffen. Bei den Gefechten um Wien wurde damals ein Minenkrieg geführt. Die Türken versuchten sich in die Stadt hineinzugraben, beziehungsweise Stollen für die Sprengungen anzulegen, und die Wiener versuchten diese aufzuspüren und die Explosionen zu verhindern. Der Grund unter uns wurde also nachhaltig durchwühlt
und es kam zu heftigen Kämpfen unter der Erde. Viele der Tunnel stürzten ein und begruben Freund und Feind, die niemals wieder ans Tageslicht kamen. Bis jetzt vielleicht, denn bei den Bauarbeiten fand man jede Menge Skelette. Im Grunde, Fräulein Latona, fahren wir gerade über ein Massengrab.«
Latona ließ den Blick schweifen und versuchte sich den zermürbenden Belagerungskrieg zwischen den Türken und den Wienern vorzustellen, als sie plötzlich stutzte. Sie kniff die Augen zusammen.
»Bram«, stieß sie hervor. »Irre ich mich oder ist das dort ein weißer Wolf? Mitten in Wien! Das kann nur bedeuten …«
»Ivy!«, stieß Bram hervor und klopfte hart gegen die Wand hinter sich. »Anhalten!« Der Kutscher zügelte die Pferde. Fassungslos starrten Bram und Latona über das vom Licht des fast vollen Mondes erhellte Feld.
»Fahren Sie dort zum Burgtor und halten Sie an«, befahl Bram, ohne auf den verblüfften Gesichtsausdruck des Professors einzugehen.
»Wartet hier.« Bram stieg aus und blieb dann an der Ecke im Schutz der Säulen des Burgtores stehen. Weder Latona noch der Professor dachten daran, seinen Worten Folge zu leisten. Vámbéry half Latona aus der Kutsche, reichte ihr den Arm und führte sie zu Bram, der schwer atmend unter den Säulen stand. Obwohl er selbst von der Möglichkeit gesprochen hatte, dass die Vampire in Wien sein könnten, hatte er anscheinend nicht recht daran geglaubt.
»Ivy«, flüsterte er.
»Wer ist Ivy?«, fragte der Professor leise.
»Das Mädchen dort mit dem Silberhaar. Sie ist eine Vampirin aus Irland. Und der Wolf an ihrer Seite heißt Seymour. Wer allerdings die wunderschöne dunkelhaarige Frau neben ihr ist, weiß ich nicht.«
»Jedenfalls auch eine Vampirin«, stellte Vámbéry fest. »Sehen Sie, das Mondlicht wirft keinen Schatten.«
Latona nickte. Es kribbelte in ihrem ganzen Körper und ihr Herz schlug bis zum Hals. Was hatte das alles zu bedeuten? War Malcolm in der Nähe?
Und doch war das nicht das sehnsuchtsvolle Pochen ihres Herzens, das sie in Paris verspürt hatte. All ihre Eingeweide krampften sich schmerzhaft zusammen. Sie hatte Angst. Große Angst. Was war das? Verdunkelte sich der Mond? Etwas wie schwarzer Nebel zog sich zusammen und verdichtete sich zu einem riesenhaften Schatten. Je schärfer die Konturen wurden, desto mehr schrumpfte das Gebilde, bis eine Gestalt in einem weiten Umhang übrig blieb, die selbst die groß gewachsene Vampirin noch deutlich überragte. Sie fiel auf die Knie und reckte ihm die Arme
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