Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition)
nicht darüber zu wundern. »Es gibt viele Dinge, vor denen man die Augen verschließen möchte. Nicht alle zeigen das Gesicht des Wahnsinns, und dennoch scheint dies hier der richtige Ort für all jene zu sein, die vergessen werden sollen.
Wissen Sie, der Wahnsinn ist oft nicht von Anfang an in jeder Zelle zu Gast. Irgendwann jedoch werden sich hier an diesem Ort alle gleich, denn der Mensch ist geboren, frei zu sein. Wir müssen unter unseresgleichen leben, sprechen, fühlen, lieben. Auf uns allein gestellt, wird unser Geist und unser Herz nur allzu schnell schwach. Wir siechen dahin, bis wir in einen Dämmerschlaf fallen, aus dem uns nur noch der Tod erlöst.«
»Sie scheinen mir nicht vom Wahnsinn befallen«, erwiderte Clarissa.
»Nein? Vielleicht täuscht das«, widersprach die Frau und seufzte. »Ich weiß ja nicht einmal, wie lange ich hier in dieser Zelle schon eingesperrt bin. Irgendwann habe ich aufgehört, die Tage zu zählen, die Wochen und Monate. Welches Jahr schreibt man dort draußen?«
»Das Jahr 1882«, gab Clarissa Auskunft.
»1882? Das ist nicht möglich! Das würde bedeuten, dass ich schon mehr als zwölf Jahre hier bin«, rief die Frau schockiert.
»Wie heißen Sie?«, erkundigte sich Clarissa.
Die Frau überlegte. »Einst war mein Name Doriana. Die Männer sprachen ihn voller Ehrfurcht aus, und in ihrem Blick lag stets Bewunderung, wenn sie sich mir näherten. Aber das ist längst vergessen. Selbst meinen Namen haben sie vergessen. Die Pflegerinnen sagen nur Signora oder sprechen von der Nummer Siebenundzwanzig. Ich bekomme eh nur selten jemanden zu sehen. Zweimal am Tag bringen sie etwas zu essen, aber dabei reden sie nicht.«
»Es kommen keine Ärzte, Sie zu untersuchen? Es fällt keinem auf, dass Sie nicht verrückt sind und nicht hierher gehören?«
Doriana überlegte. »Bin ich denn nicht verrückt? Ich weiß es nicht. Aber ich denke, das interessiert niemanden. Es hat keinen interessiert, als sie mich hierher gebracht haben, und jetzt kümmert sich erst recht keiner mehr darum. Es ist nicht vorgesehen, dass ich diese Insel wieder verlasse. Nur um meine letzte Reise nach San Michele anzutreten. Aber vielleicht bleiben die Toten von San Clemente auch hier. Ich weiß es nicht. Ich könnte die Schwester fragen, wenn sie mir das Frühstück bringt.«
Ihr Blick wanderte in die Ferne, und zum ersten Mal fragte sich Clarissa, ob ihr Geist nicht tatsächlich Schaden erlitten hatte. Wundern würde sie es nicht, wenn die Frau wirklich schon mehr als zwölf Jahre in dieser Zelle zwischen all den verrückten Frauen saß.
Eigentlich wäre es jetzt Zeit zu gehen. Ihre Gier war befriedigt. Sie hatte sich unterhalten. Nun könnte sie zu ihrem Versteck zurückkehren.
Um was zu tun? Sich ans Ufer setzen, über die Lagune starren und ihr Schicksal beweinen?
Sie konnte gar nicht mehr weinen. Sie war ein Vampir. Ihr Leben war längst zu Ende, und nun war es auch Zeit, diese unheilige Existenz zu beenden. Alles, was sie tun musste, war, auf die Sonne warten.
Stattdessen trat Clarissa an den schmalen Tisch heran. Sie zog den einzigen Stuhl hervor und sah die Frau fragend an.
»Oh ja, bitte, nehmen Sie Platz. Wo sind nur meine Manieren? Sie müssen mit den Jahren ein wenig eingerostet sein«, sagte sie, und es schwang Bitterkeit in ihrer Stimme. Clarissa ließ sich auf dem Stuhl nieder, während sich Doriana auf das Bett setzte.
»Woher kommen Sie?«, erkundigte sich Clarissa, um das Gespräch möglichst auf neutralem Feld zu beginnen.
»Rom«, sagte Doriana und schien zu überlegen. Vielleicht waren die Erinnerungen an ihre Heimat so fern, dass sie Zeit brauchten, ihren Geist zu durchströmen.
»Ich wuchs in einem riesigen, alten Haus am Ufer des Tibers auf. Eine Villa mit unzähligen Säulen, deren Pracht aber längst schon verblichen war, wie der Name der Familie. Es war ein einfaches Leben mit meinen sechs Geschwistern. Bis ich siebzehn wurde. Ja, ich erinnere mich an meinen Geburtstag, an dem mein Vater von einer Reise früher als erwartet zurückkehrte. Er brachte Besuch mit. Einen Mann in prächtiger Kleidung, den ich nicht kannte. Er hatte einen strengen Blick. Ich glaube, er konnte gar nicht lächeln. Er hat mit meinem Vater einen Vertrag geschlossen, dessen Inhalt ich damals nicht kannte und den ich auch heute erst erahne.«
»Und dann?«
»Dann nahm er mich mit nach Venedig. Ich war verwirrt, aber auch neugierig. Ich hatte schon so viel von der magischen Stadt im Wasser gehört. Es
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