Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition)
war wie ein Traum, ein Zauber, der über mich geworfen wurde, der plötzlich alles veränderte.«
Ihr Blick huschte wieder davon, und Clarissa sah, wie sie lächelte. Es war ein unbeschwertes Lächeln. Es musste eine glückliche Zeit gewesen sein, die die Erinnerung heraufbeschwor. Clarissa wartete geduldig, bis ihr Blick zurückkehrte und Doriana sie ansah.
»Es war wie ein Traum, ein Märchen aus vergangenen Zeiten. Ich war sehr schön, wissen Sie. Außergewöhnlich schön, das hat er zumindest immer wieder gesagt, und ich konnte es auch in den Augen der Männer sehen, denen ich begegnet bin. Der Conte hat aus mir eine Principessa gemacht. Mir Kleider gekauft und Schmuck. Ja, die schönsten Juwelen, die man sich vorstellen kann, legte er mir um den Hals, wenn wir zu einem Ball oder einem Konzert in einem der prächtigen Palazzi gingen.
»Und als Gegenleistung verlangte er Ihre Zuneigung und ihre Gunst«, vermutete Clarissa. Solche Geschichten gab es in vielen Tönen.
»Nein! Er hat mich niemals angerührt.«
»Nein? Was war dann Ihr Teil des Vertrags? Den gab es doch, oder nicht?«
Sie seufzte und nickte. »Ich denke schon. Ich war eine Art Köder, aber das wusste ich lange Zeit nicht. Ja, der Gedanke kam mir erst in meinen einsamen Tagen und Nächten hier, in denen ich mehr als genug Zeit hatte, über alles nachzudenken.«
Doriana ließ einen Ton erklingen, der vielleicht ein Lachen hätte sein können. Sie strich ihr schwarzes Kleid glatt, das sie im Gegensatz zu den meisten anderen Insassen hier trug. Vielleicht war es den Ärzten und Pflegerinnen wohl bewusst, dass sie keine ihrer Patientinnen war und eigentlich nicht hierher gehörte. Oder war ihnen das alles egal? Warum entließen sie die Frau nicht, wenn sie wussten, dass sie gesund war? Weil derjenige, der sie einst hergebracht hatte, es so wollte?
Warum?
Warum hatte überhaupt jemand sie hierher bringen lassen und sorgte nach so vielen Jahren noch immer dafür, dass sie in dieser Zelle zwischen all den verrückten Frauen eingesperrt wurde?
»Was ist weiter passiert?«, drängte Clarissa. »Und wie kam es schließlich, dass Sie hier an diesen Ort gelangt sind, an den sie nicht gehören?«
»Wenn ich nur selbst die Antworten wüsste! Die erste Wendung in diesem traumhaften Leben begann, als ich ein Herz entflammte. Verstehen Sie, es sollen unzählige Herzen meiner Schönheit wegen gebrochen sein, was ich aber nicht so recht glauben mag. Männer reden gern von großen Gefühlen und lassen sich in der Glut der Nacht zu Schwüren hinreißen, die am Morgen bei klarem Kopf wieder vergessen sind. Aber dieser eine Mann entflammte für mich, und er war nicht bereit, mich einem anderen zu überlassen. Er setzte alles daran, mich zu bekommen, und er war keiner, der eine Niederlage hinnehmen würde.
Ich sah ihn auf einem Ball, den der Conte mit großer Pracht veranstaltete. Nein, eigentlich sah er mich und trat auf mich zu. Ich fühlte seinen Blick, der mich zu verbrennen schien. Zuerst sah er mich nur an, dann verbeugte er sich, und dann schwor er, dass ich die Seine werden sollte.«
»Und der Mann, der Sie nach Venedig brachte? Wie reagierte er?«
»Conte Contarini? Das war seltsam. Er brachte mich noch in derselben Nacht weg und versteckte mich auf Sant’Erasmo, sprach aber mit zu vielen darüber, als dass mein Verehrer lange gebraucht hätte, herauszufinden, wo ich war. Sein Ehrgeiz war angestachelt, und er kam, mich zu entführen, mich zu besitzen und mich zu behalten.«
Clarissa sog die Luft ein. »Haben Sie ihn geliebt?«
Die Frau gab keine Antwort. Wieder sah sie in die Ferne. Dann blickte sie zu Clarissa.
»Gehen Sie jetzt. Ich bin müde und will für ein paar Stunden vergessen.«
Clarissa erhob sich, obgleich sie darauf brannte, die Fortsetzung der Geschichte zu erfahren.
»Darf ich wiederkommen?«, fragte sie zum Abschied.
Die Frau lächelte traurig. »Wenn es Ihnen danach ist. Sie wissen, wo Sie mich finden. Ich werde hier sein.«
Clarissa kehrte langsam zu ihrem Versteck zurück, in Gedanken noch immer bei der schönen Frau, die hier nichts zu suchen hatte. Es war gut, über Dorianas Schicksal nachzugrübeln. Das lenkte sie von ihrem eigenen ab, und so begab sie sich, als sich der Morgen ankündete, ganz selbstverständlich zu ihrem Lager in der dunklen Kammer der Ruine.
***
Anna Christina?
Leo bekam noch immer keine Antwort, aber er glaubte, irgendwo Schmerz zu fühlen. Sie kämpfte. Mit wem? Er ließ sich noch tiefer sinken. Was
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