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Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition)

Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition)

Titel: Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Schweikert
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noch immer viel Kraft und ihren ganzen Willen, aufzuhören und rechtzeitig von ihren Opfern abzulassen, doch Lucianos eindringliche Worte schallten durch ihren Geist. Sie würde nicht nur diese Frauen töten. Sie würde auch sich selbst hinab ins Verderben reißen, wenn sie sich nicht rechtzeitig löste.
    Na und? Was spielte das jetzt noch für eine Rolle?
    Für einen Moment hielt sie inne. Sie sah auf die beiden roten Punkte am Hals der Frau herab, aus der langsam zwei Tropfen Blut hervorquollen. Noch vor ein paar Monaten hätte allein der Gedanke, die Frau zu töten, ein Aufschrei des Entsetzens in ihr ausgelöst. Zu Anfang hatte sie sich kaum überwinden können, überhaupt das Blut von Menschen zu trinken, und nun?
    Sie horchte in sich hinein.
    Nun war ihr das Schicksal dieser beiden Frauen völlig gleichgültig. Doch zumindest erschreckte sie ihre eigene Kälte. Noch. Sie erinnerte sich daran, wer sie früher gewesen war. Ein empfindsames Mädchen, das der Tod eines kleinen Singvogels in Tränen hatte ausbrechen lassen und in tiefen Trübsinn gestürzt hatte.
    Clarissa lachte bitter auf. Und heute war sie zu einem Monster geworden. Der Prozess hatte mit ihrer Wandlung begonnen und sich dann schleichend fortgesetzt, bis sie heute bei dem Gedanken, einen Menschen zu töten, kein Mitleid mehr empfand.
    Aber es war ihr verboten! Die Clans hatten in Genf ein Abkommen unterzeichnet, und sie gehörte zu den Nosferas, für die der Conte unterschrieben hatte.
    Vielleicht empfand sie doch ein wenig Erleichterung, sich an dieser Regel festhalten zu können und auf den letzten Akt zu verzichten. Sie drehte sich um, ohne den beiden Frauen noch einen Blick zu gönnen, und wandte sich wieder dem Gang mit den vergitterten Zellen zu. Kälte und Gestank folgten ihr, während sie an den verschlossenen Türen entlangging. Sie suchte als Erstes die Kammer der Frau mit dem wilden schwarzen Haar auf. Heute lag sie auf ihrem Bett unter der rauen Decke und schlief tief und fest. Mit einem Lächeln wandte sich Clarissa ab und setzte ihren Weg fort. Sie folgte dem Gang um eine Ecke und passierte einige leere Zellen. Clarissa wollte schon umkehren, als sie eine Stimme vernahm. Jemand sang! Hell und klar erhob sich die Weise, die so gar nicht zu diesem finsteren Ort passen wollte. Es war eine schöne Stimme, in der jedoch so viel Schmerz mitschwang, dass Clarissa am liebsten ihre Ohren verschlossen hätte, doch sie konnte nicht entfliehen. Sie musste bleiben und zuhören, bis das Lied zu Ende war. Es berührte sie tief und zog sie an. Langsam setzte sie einen Schritt vor den anderen, bis sie die letzte der Zellen erreichte. Sie sah eine Frau am Fenster stehen und durch die Gitterstäbe nach draußen auf die nächtliche Lagune schauen. Sie war nicht sehr groß und von fast zerbrechlicher Gestalt, sodass Clarissa zuerst dachte, ein junges Mädchen vor sich zu haben. Der Geruch, der ihr in die Nase stieg, war jedoch der einer erwachsenen Frau. Schwarzes Haar fiel ihr in Locken bis zu den Hüften, allerdings hatte sie sicher schon eine ganze Weile keine Gelegenheit mehr gehabt, es zu waschen.
    Ohne es bewusst zu wollen, legte sich Clarissas Hand an den Riegel und zog ihn beiseite. Das Geräusch ließ die Frau sich umwenden.
    Wie schön sie war, trotz der Trauer und der Verzweiflung, die sich in ihr Gesicht gegraben hatten. Es war vor allem ihr Blick, der Clarissa bis ins Mark traf. Wenn diese Frau wahnsinnig war, dann musste tiefes Leid die Ursache dafür sein. Clarissa trat näher. Die Frau sah sie unverwandt an, sagte aber nichts. Ihr Blick war klar und wachsam, so als erwarte sie irgendeine Teufelei.
    »Verzeihen Sie mir, dass ich hier einfach so eindringe, aber ich habe Sie singen gehört, und es hat mich tief berührt.«
    Die Frau musterte sie noch immer. Es war kein feindseliger Blick, aber sie war auf der Hut. Clarissa schätzte sie auf Mitte dreißig, obgleich sie einerseits jünger, aber auch wieder viel älter aussah. Ihre Wangen waren glatt und doch ahnte sie um den Mund die feinen Linien, die das Leid, das sie erlebt hatte, bald tief in ihr Gesicht graben würde.
    »Sie sind keine der Pflegerinnen«, stellte die Frau mit ihrer klangvollen Stimme fest. »Und Sie scheinen auch sonst nicht hierher zu gehören. Sollten sie nicht besser zu einer der Lazarettinseln gebracht werden?«
    Clarissa hob die Schultern. »Ihre Doktoren könnten mir nicht helfen«, sagte sie.
    »Und deshalb hat man Sie hierher gebracht.« Die Frau schien sich

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