Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition)
aussprechen. Irgendwann. Doch heute gab es Wichtigeres.
»Wann schlagt ihr zu?«, fragte sie.
»Um Mitternacht. Bis dahin dürfte der Sturm nachlassen. Wir wollen auf dem Rückweg nicht von den Dächern geweht werden. Außerdem wird das Wasser weiter steigen, sodass die Gassen für jeden, der uns vielleicht folgen wollte, unpassierbar werden. Es passt alles ganz wunderbar. Die Nacht ist wie für uns gemacht.«
Nein! War sie nicht. Sie musste es endlich aussprechen.
» Padre «, begann sie, unsicher, wie sie fortfahren sollte. »Dies ist nicht deine Nacht. Draußen beim Dogenpalast droht dir Gefahr.«
Er lächelte sie an. »Du musst dir keine Sorgen machen.«
»Doch!«, widersprach sie tapfer. »Die Polizei wartet bereits auf euch – auf dich! Der Plan wurde verraten.«
Er lächelte noch immer. »Meine Liebe, das ist nicht möglich. Nur die Mitglieder der Familie wussten davon.«
Nicoletta sah ihn traurig an. »Und doch ist es so. Nicht allen der Familie kannst du länger vertrauen.«
Nun änderte sich seine Miene, und er legte ihr seine Hand auf den Mund. »Kein Wort mehr. Ich weiß, du bist erzürnt, und nicht alle denken so, wie du es möchtest, doch lass dich nicht dazu hinreißen, einen deiner Onkel oder Cousins zu verleumden! Das werde ich nicht hinnehmen.«
»Aber … «, versuchte sie es noch einmal.
»Schluss!« rief er erzürnt. »Du bleibst heute hier. Finde dich in Würde damit ab und tische mir nicht irgendwelche Räubergeschichten auf!«
Als er sich umdrehte, fiel sein Blick auf den Umhang, den Nicoletta über einen Stuhl geworfen hatte. Er nahm ihn in die Hand und sah dann an sich herunter. Nicolettas Umhang war ihm mehr als eine Handbreit zu kurz. »Da ist er ja«, hörte sie ihn murmeln. Er runzelte die Stirn, dann tauschte er die Umhänge gegeneinander aus, warf sich den seinen über die Schulter und eilte zur Tür. Der Schlüssel knirschte im Schloss.
Nicoletta starrte ihm fassungslos nach. Sie spürte, wie sich ihr Herz verkrampfte. Er würde nicht zurückkommen. Er würde abstürzen, und wenn er dabei nicht zu Tode kam, würde er in die Hände der Polizei fallen, die seit unendlichen Zeiten auf diese Gelegenheit wartete.
N ICOLETTAS H ILFERUF
Die Sonne war untergegangen. Die Vampire erhoben sich aus ihrem Schlaf. Alisa eilte sofort zu Luciano und untersuchte seine Wunden. Sie sahen gut aus. Auf beiden Einstichen hatten sich Krusten gebildet und er konnte sich bereits wieder fast schmerzfrei bewegen.
»Kein Grund zur Aufregung«, wehrte er ab. »Nur zwei Kratzer.«
»Das sah gestern Nacht aber ganz anders aus«, rief Alisa ihm ins Gedächtnis.
Luciano winkte ab. »Erinnere mich nicht daran. Ich weiß nur, dass ich mir den Frack nun endgültig ruiniert habe. Anna Christina, ich brauche deinen Rat, um mich neu einzukleiden.«
»Endlich kommst du zur Vernunft!« Die Dracas nickte ihm zu. »Mit Vergnügen.«
»Gut, dann frönt ihr den modischen Errungenschaften, ich habe etwas anderes zu erledigen«, sagte Leo. Der brüske Ton ließ Alisa aufsehen.
»Darf man erfahren, was das ist?«
»Nein!«
»Darf ich dich begleiten?«
»Nein.«
Das zweite Nein klang nicht ganz so bestimmt, daher heftete sich Alisa an seine Fersen, als er zum Dachfenster trat.
»Ich denke, du könntest meine Unterstützung brauchen«, sagte sie so leise, dass die anderen und vor allem Luciano es nicht hören konnten. »Ich weiß zwar nicht, was du vorhast, doch ich ahne, dass es sich um eine ernste Angelegenheit handelt und daher lautet meine Vermutung: Es hat mit Clarissa zu tun.«
Leo hielt inne. »Nun gut, dann komm mit. Vielleicht ist es nicht so dumm, dich dabeizuhaben. Ich kann mich nicht rühmen, stets den rechten Ton mit dem weiblichen Geschlecht zu treffen und ihren Empfindlichkeiten gerecht zu werden.«
Alisa schnaubte. »Willst du wirklich behaupten, hier ginge es nur um die Empfindlichkeit von Frauen?«
»Nein«, sagte er so ernst, dass wieder diese Furcht sie durchströmte. Alisa schluckte trocken.
»Möwen?«, fragte sie.
»Möwen«, nickte Leo.
Sie wandelten sich und ließen sich aus dem Fenster fallen, ehe einer der anderen sie aufhalten konnte.
Eine Windböe erfasste sie und schleuderte sie in die Luft. Alisa brauchte einige Augenblicke, bis sie ihre Federn so ausgerichtet hatte, dass sie auf dem Luftstrom segeln konnte. Eine neue Böe rauschte vom offenen Meer heran. Am Himmel ballten sich Wolken zusammen und türmten sich immer höher auf. Wieder wirbelte der Wind sie aus
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