Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition)
Alisa glaubte ihr, auch wenn es an ihrem Ego nagte.
»Die Degen scheinen von guter Qualität«, war der einzige Kommentar, den Leo von sich gab, während Luciano Alisa versicherte, dass sie großartig gefochten habe. »Nur dein verletztes Bein hat dich behindert«, betonte er.
Anna Christina funkelte ihn spöttisch an. »Du meinst, sonst hätte sie mich mit Leichtigkeit besiegt?«
Luciano wich ihrem Blick aus. »Sie hätte zumindest eine gute Chance auf einen Treffer gehabt«, wagte er zu sagen.
Anna Christina lachte, doch es klang nicht so verächtlich wie gewöhnlich. »Wir können das Experiment gerne noch einmal wiederholen, wenn Alisa wieder ganz auf der Höhe ist. Die Ansätze waren nicht schlecht«, gab sie großzügig zu, und das war schon mehr, als man von der Dracas gewohnt war.
***
Sie waren weg. Nicoletta war sich sicher. Sie war alleine im Versteck der Oscuri im Arsenal. Nun zumindest fast, wenn man den gelähmten Tommaso nicht mitzählte. Die anderen Verstecke der Oscuri waren über ganz Venedig verteilt: An der Südseite von La Giudecca, von wo aus man die Kloster- und Lazarettinseln sehen konnte, die sich verstreut in der Lagune erhoben, ehe der Lido den Horizont begrenzte, in Cannaregio oder Santa Croce und natürlich auf der ein oder anderen unbewohnten Insel in der Lagune. Das wichtigste Versteck aber war das im Arsenal, zu dem die Oscuri schon immer eine enge Bindung gehabt hatten. Sie konnten sich von jeher sicher sein, unter den Werftarbeitern Unterstützung zu finden. Das Arsenal war eine kleine Welt am Rande Venedigs, wo ganz eigene Regeln galten. Hier würden sich ihr Vater und die anderen morgen wieder treffen, um die Vorbereitungen für Donnerstag abzuschließen. Natürlich nur die männlichen Mitglieder der Familie. Die Frauen und ihre Kinder lebten verborgen, verteilt in drei Häuserblöcken in drei verschiedenen Sestiere , unerkannt mitten unter den nichts ahnenden Venezianern. Es war den Oscuri schon immer wichtig gewesen, ihre Frauen und Kinder besonders zu schützen. Sie von den nächtlichen Raubzügen und den Verstecken der Beute fernzuhalten, schien ihnen die größte Sicherheit zu bieten. Dafür bekamen die Frauen die männlichen Familienmitglieder nicht gerade häufig zu Gesicht. Es waren zwei Welten, in denen das Leben nicht unterschiedlicher hätte sein können.
Nicoletta wartete noch eine Viertelstunde. Nicht, dass sie befürchtete, sie könnten noch einmal zurückkommen. Nein, sie musste sich klar darüber werden, was sie nun tun sollte. Sie musste sich ganz sicher sein, dass sie das auch wirklich wollte, denn Nicoletta wusste, dass dies nicht ohne Folgen bleiben konnte. Selbst wenn ihr Vater ihr verzieh und beschloss, ihr eigenmächtiges Handeln nicht zu bestrafen. Sie war sich sicher, dass es genug Männer in der Familie gab, die auf solch eine Gelegenheit nur warteten. Sie war ein Mädchen. Sie gehörte nicht in ihre Runde. Bis auf ihren Onkel Leone und ihren Cousin Gabriele würde sie vermutlich keine Fürsprecher finden.
War es das Risiko wert? Wie würde ihr Vater reagieren? Würde er sich in diesem Fall schützend vor sie stellen oder sich wie bei der Vampirin dem Entschluss der Mehrheit beugen?
Es war ein Risiko, und dennoch konnte sie nicht anders. Nicoletta erhob sich. Sie legte sich ihren Umhang über die Schultern und nahm die Maske in die Hand. Für einen Moment erwog sie, sie anzulegen, dann aber schob sie sie in ihre Tasche. Langsam stieg sie die Treppe zum Gelass hinunter. Der Schlüssel steckte nicht im Schloss. Das hatte sie fast schon vermutet. Ihr Vater hatte ihn sicher an sich genommen und verwahrte ihn nun sorgfältiger. Aber das machte nichts. Nicoletta hatte vorgesorgt und sich einen passenden Ersatz aus einem anderen alten Schlüssel zurechtgefeilt. Er klemmte ein wenig, doch dann knirschte das Schloss, und die Tür sprang auf.
Clarissa lag auf dem Rücken im Bett, ihre Beine waren am eisernen Rahmen angekettet. Sie hatte die Hände vor der Brust gefaltet und starrte an die Decke. Sie rührte sich nicht, als Nicoletta die Tür öffnete und mit erhobener Lampe näher trat. Sie blinzelte nicht einmal. Ihr Blick wirkte seltsam starr. War sie nun doch ihren Verletzungen erlegen? Hatte sich das Problem von selbst gelöst?
Nicoletta schämte sich für diesen Gedanken. Sie räusperte sich.
»Clarissa, bist du wach?«
Die Vampirin blinzelte noch immer nicht, doch ihre Lippen begannen sich zu bewegen.
»Ja, die Sonne ist versunken. Die Nacht ist
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