Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition)
verschwunden.
»Gehen wir«, stimmte sie ihm resignierend zu und machte sich an den Abstieg.
»Weißt du, was mich am meisten verstimmt«, sagte sie, als sie auf den Campo traten. »Dass sie uns entdeckt und an der Nase herumgeführt haben.«
»Verstimmt?«, wiederholte er. »Das ist nicht das Wort, das ich wählen würde«, widersprach der Servient. »Es macht mich eher besorgt. Sie stören unsere Magie, sie verhindern eure Wandlungen, sie verwirren und schwächen uns. Was für unangenehme Überraschungen halten sie noch für uns bereit? Bisher haben sie ihre Kräfte nur dafür eingesetzt, unseren Nachforschungen zu entgehen. Was, wenn sie sich entschließen, dass in Venedig nicht genug Platz ist für sie und für Vampire? Was, wenn sie beschließen, uns mit Gewalt von hier zu vertreiben?«
Alisa antwortete nicht, doch die Sorge stand ihr ins Gesicht geschrieben.
»Lass uns sehen, wo Tammo abgeblieben ist«, stieß sie schließlich gepresst hervor.
N ICOLETTA
Tammo trug sie in seinen Armen. Wie leicht sie war. Er konnte ihr Gewicht kaum spüren. Sie war noch immer bewusstlos, ihr Kopf hing schräg zur Seite. Aus der kleinen Wunde am Hals sickerte ab und zu ein Tropfen Blut.
Tammo hatte die Gondel am Anleger links des schmalen Kanals festgemacht, der am Fuß des Palazzo Dario entlangfloss. Nun huschte er mit seiner schönen Last ungesehen zu ihrem Versteck hoch oben unter dem Dach des Mietshauses. Er legte das Mädchen vorsichtig in einen der Särge, die ihnen für die Nacht dienten. Er selbst konnte gern in einer der stinkenden Kisten vom Fischmarkt schlafen, das machte ihm nichts aus. Doch sie sollte es bequem haben, wenn sie erwachte.
Dass es sie vielleicht erschrecken könnte, in einem Sarg aufzuwachen, erwog er nicht. Sie war kein normaler Mensch, kein zimperliches Mädchen, das sich vor einer einfachen Kiste ängstigte, davon war er überzeugt.
Tammo kniete sich neben den Sarg. Er konnte den Blick nicht von ihr wenden.
Weil er besorgt war, natürlich, warum denn sonst? Er hatte ihr nicht schaden wollen und war von ihrem plötzlichen Schwächeanfall überrascht worden. Nun war es an ihm, dafür zu sorgen, dass sie wieder erwachte und sich von seinem Biss erholte.
Zögernd hob Tammo die Hand und näherte sie ihrer blassen Wange. Er wollte nur fühlen, wie warm ihre Haut war, sagte er sich, während er mit seinen Fingerspitzen von ihrer Wange über ihre Lippen und dann ihren Hals entlangstrich.
Da öffnete sie die Augen. Für einen Moment starrte sie das Gesicht über sich an. Verwirrung zeichnete sich in ihrer Miene ab. Dann schien ihre Erinnerung zurückzukehren. Tammo zog seine Hand zurück.
»Du bist wieder wach«, sagte er lahm und ärgerte sich über die dumme Bemerkung. Das war ja wohl offensichtlich!
Sie schoss ihm einen Blick zu, der einem giftigen Pfeil glich, und setzte sich so hastig auf, dass ihr gleich wieder schwindelig wurde. Sie wankte. Tammo griff nach ihrem Arm, damit sie sich den Kopf nicht an der Sargwand anschlug.
»Lass mich los!«, zischte sie und entwand sich ihm.
Er ließ es zu, obgleich es ihm ein Leichtes gewesen wäre, sie festzuhalten. Sie sah sich auf dem Dachboden um und verzog das Gesicht zu einer Grimasse.
»Wo bin ich hier?«, herrschte sie ihn an.
»In unserem Versteck, irgendwo in Venedig, mehr musst du nicht wissen.«
Sie schnaubte.
»Ich verlange, dass du mich sofort freilässt!«, sagte sie barsch.
Sie war seine Gefangene, und eigentlich sollte es ihr nicht ratsam erscheinen, in diesem Ton mit ihm zu sprechen, doch statt sich darüber zu ärgern, bewunderte Tammo den Mut des fremden Mädchens. Sie versuchte, sich aus dem Sarg zu stemmen, doch ihre Beine knickten ein, und sie fiel zurück. Sie stöhnte, dann sank ihr Blick auf die Kiste herab, in der sie saß. Tammo sah das Erschrecken in ihren Augen, als sie erkannte, dass es sich um einen Sarg handelte, doch sie biss die Zähne aufeinander, dass ihre Kieferknochen hervortraten. Sie wollte sich keine Schwäche anmerken lassen.
»Willst du mir damit etwa Angst einjagen?«, fragte sie. So ganz gelang es ihr nicht, das Zittern in der Stimme zu unterdrücken.
»Nein, das war nicht meine Absicht«, wehrte Tammo ab. »Ich wollte nur, dass du es nicht zu unbequem hast.«
»In einem Sarg?«
Er hob nur die Schultern. Was sollte er dazu sagen? War es nicht egal, ob es ein Bett, eine Kiste oder ein Sarg war?
»Die Kisten hier riechen nach Fisch«, erklärte er, »aber wenn du keine Särge magst, dann kann ich
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