Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition)
ihm nicht ziehen, nahm er sich vor, und so klang seine Stimme barsch, als er ihr antwortete.
»Nun wirst du mir verraten, wo ich Clarissa finde. Wenn sie wieder bei uns ist und wir uns versichert haben, dass ihr kein Haar gekrümmt wurde, dann lassen wir dich frei.«
Er sah, wie sie zusammenzuckte. Tammo versuchte nochmals, in ihren Geist einzudringen, aber irgendetwas schützte ihn. Er erhaschte nur ein paar wirre Bildfetzen, aber die konnten nicht der Wirklichkeit entsprechen. Zumindest wollte er das glauben.
»Nun, ich höre!«
Nicoletta verschränkte trotzig die Arme vor der Brust. »Ich sage gar nichts. Ich warte einfach, bis mich mein Vater hier herausholt.«
»Gut, wie du willst. Vermutlich sind meine Schwester und die anderen deinen Leuten eh auf den Fersen und lassen sich direkt in euer Versteck führen. Dann haben wir Clarissa wieder und du hast dir dein Schicksal selbst zuzuschreiben.« Er sah sie mit gierigem Blick an. »Dein Blut hat gut geschmeckt. Wer weiß, vielleicht nehme ich mir noch ein wenig oder noch viel mehr? Ob du dann jemals wieder erwachst?« Er hob die Schultern und tat so, als sei ihm das völlig gleichgültig.
Er glaubte, Angst in ihren Augen zu erkennen, aber vielleicht täuschte er sich auch. Verdammt, er war gut. Er konnte selbst Alisas Gedanken lesen, warum gelang es ihm nicht, mit diesem Mädchen fertig zu werden? Nun lachte sie sogar höhnisch.
»Selbst wenn es deinen Vampirleuten gelingt, den Oscuri zu folgen – was ich bezweifle – , wird ihnen das nichts nützen. Sie werden eure Vampirin nicht finden, egal, zu welchem Ort sie ihnen folgen.«
Tammo sah Nicoletta prüfend an. Sie schien an ihre eigenen Worte zu glauben. Wo zum Teufel hatten diese Oscuri Clarissa hingeschafft?
»Wart’s ab«, entgegnete Tammo abfällig. »Wir haben zwei Dracas bei uns, die sich vorzüglich darauf verstehen, Gedanken zu lesen. Sie werden in Erfahrung bringen, wo Clarissa gefangen gehalten wird.«
»Nein, das werden sie nicht«, erwiderte Nicoletta kühl. »Denn weder ihr Mund noch ihre Gedanken können verraten, was sie nicht wissen.«
»Was?« Tammo starrte sie verblüfft an. Sie versuchte, ihn hinters Licht zu führen. Das war nur ein Trick. Wie sollte es möglich sein, dass Clarissas Entführer nicht wussten, wo sie sich befand? Das war absurd. Und dennoch schienen ihm ihre Worte wahr.
Warum konnte er nicht tiefer in ihre Gedanken dringen? Was war das für ein Schutz, der sie umgab und seinen Geist zunehmend verwirrte, je tiefer er in den ihren einzudringen suchte.
»Ich glaube dir kein Wort«, rief Tammo und hielt dann inne. Er huschte zur Tür und lauschte. Da war jemand. Er sog den Geruch ein, der durch die Ritzen drang. Auch Nicoletta sah angespannt zur Tür. In ihr Gesicht stahl sich Hoffnung.
»Vergiss es«, meinte Tammo. Er eilte zu ihr, gab ihr einen Stoß, dass sie nach hinten kippte, und schloss den Sargdeckel. Schon wurde die Tür aufgestoßen und Alisa und Hindrik kamen herein.
Alisas Blick huschte über den Dachboden und blieb an Tammo hängen. Erleichterung vertrieb die Anspannung in ihrer Miene.
»Tammo! Verflucht, was machst du hier? Wir haben dich überall gesucht. Du warst plötzlich verschwunden. Haben wir dir nicht ganz klare Anweisungen gegeben, dass du die Gassen und den Kanal im Norden des Palazzo sicherst?«
»Oh ja, befohlen habt ihr es mir, als ob ich euer Lakai wäre, während ihr im Palazzo euren Spaß hattet. Ich hoffe, es war lustig und ihr habt den Überfall aus nächster Nähe genossen!«
»Du warst nicht richtig gekleidet, um mit auf den Ball zu gehen«, entgegnete Alisa und wiederholte damit das Argument, das auch die Dracas vorgebracht hatten. Na klar, sie wurde selbst immer mehr zu einer von ihnen, dachte Tammo bitter.
»Außerdem hat auch Hindrik draußen Wache gehalten, und er ist im Gegensatz zu dir nicht einfach verschwunden!«
»Und was hat das gebracht? Hat er die Oscuri erfolgreich zu ihrem Versteck verfolgt?«, erkundigte sich Tammo in ätzendem Ton.
»Nein«, gab Alisa zu. »Wir waren zusammen hinter zwei der Schemen her, aber sie sind uns mit ihren flügelartigen Umhängen über den Canal Grande entwischt. Hindrik kann sich nicht wandeln und ich habe es auch nicht geschafft«, gab sie ein wenig kleinlaut zu.«
»Ha!«, rief Tammo nur und seine Augen blitzten.
»Äh, Alisa«, mischte sich Hindrik ein. »Ich denke, wir sollten Tammo nach dem Grund fragen, der ihn von seinem Posten forttrieb – und danach, wo dieser Grund
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