Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition)
Gier sie zu jeder möglichen Verzweiflungstat treiben.«
Wäre Luciano da gewesen, hätte Alisa diesen Gedanken nicht laut ausgesprochen. Es hätte ihn noch mehr beunruhigt, aber sie hatte sich schon gefragt, wie Clarissa so viele Nächte ohne Blut zurechtkommen würde. Nun blieb ihr nur zu hoffen, dass die anderen bei ihrer Verfolgung mehr Glück haben würden als Hindrik und sie. Immerhin hatten sie Lucianos Unterstützung aus der Luft, und solange sich die Vermummten über die Dächer bewegten oder ein Boot bestiegen, konnte Luciano ihnen als Fledermaus in sicherem Abstand folgen, um den Dracas den Weg zu weisen. Für sie selbst wäre es schwierig geworden, einen Zugang zu Lucianos Geist zu finden, doch Leo und vor allem Anna Christina konnten das selbst über große Entfernungen hinweg.
»Geduld!«, mahnte Hindrik. Alisa seufzte. Sie sah zu ihrem Bruder hinüber, der mit abwesender Miene neben dem Sarg saß und das schlafende Mädchen bewachte, dem er mittlerweile zur Sicherheit Hände und Füße gefesselt hatte, damit sie während des herannahenden Tages nicht fliehen konnte. Sein Blick kam Alisa ein wenig seltsam vor, aber gut, es war ja seine Gefangene. Hindrik folgte ihrem Blick und lächelte.
»Was ist?«, wollte Alisa wissen.
»Ach nichts. Es könnte nur sein, dass wir noch einige Überraschungen erleben.«
Alisa runzelte die Stirn. »Wie meinst du das?«
Aber Hindrik war nicht bereit, mehr dazu zu sagen. »Üben wir uns in Geduld und warten wir auf die anderen«, sagte er nur.
Ihre Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Alisa versuchte immer wieder, Leo mit ihren Gedanken zu erreichen, aber er war wohl zu weit weg, oder er wollte nicht antworten. Weil es ihn zu viel Kraft kosten würde? Weil er in Schwierigkeiten war?
Hoffentlich nicht.
»Es ist sicher alles in Ordnung«, sagte Hindrik mit ruhiger Stimme und griff nach ihren Händen. »Wir wissen nicht, wo dieses Versteck ist. Vielleicht müssen sie bis ans andere Ende der Stadt laufen oder mit einem Boot fahren. Das kann dauern.«
»Es dauert zu lange!«, erwiderte Alisa heftig. Sie befreite sich aus seinem Griff und ging zum Fenster. Im Osten rötete sich bereits der Himmel. Es würde ein schöner Tag werden. In kaum einer halben Stunde würde die Sonne aufgehen und die Dächer der Stadt mit flüssigem Gold überziehen. Und jeden Vampir vernichten, der so leichtsinnig war, sich noch nicht in ein schützendes Versteck zurückgezogen zu haben.
»Verdammt, wo sind sie? Sie werden es nicht mehr schaffen.«
Alisa ging zur Tür, lauschte und witterte ins Treppenhaus. Mit einem frustrierten Seufzer schloss sie die Tür wieder. Als sie sich umwandte, war es auf dem Dachboden hell geworden.
»Alisa, leg dich in deine Kiste«, sagte Hindrik schon ein wenig undeutlich.
»Ich habe gelernt, dem Ruf der Sonne zu widerstehen. Ich werde wach bleiben, bis sie zurückkommen!«
»Ich bitte dich, mach keine Dummheiten. Ich kann dich nicht beschützen, wenn die Sonne aufgegangen ist.«
»Du musst mich nicht beschützen. Leg dich hin!«
Hindrik wankte zu seiner Kiste und setzte sich. »Aber versprich, dass du nicht hinausgehst. Das ist zu gefährlich. Sie werden sich einen Unterschlupf gesucht haben. Du kannst sie bei Tag nicht finden! Sobald die Nacht wieder hereinbricht, kommen sie zurück – vielleicht sogar mit Clarissa!«
»Vielleicht«, murmelte Alisa und sah, wie Hindriks Augen sich schlossen. Er fiel nach hinten in die Kiste. Alisa schloss den Deckel über ihm. Sie trat noch einmal zum Fenster, obgleich sie das Gefühl hatte, als müsste sie durch tiefes Wasser waten. Ihre Augenlider wogen schwer, aber sie ergab sich nicht dem Gewicht, das sie in den Schlaf ziehen wollte.
Der Anblick war überwältigend! Und schmerzhaft. Das grelle Licht peinigte sie, und dennoch konnte sie den Blick nicht abwenden. Wie prachtvoll war Venedig im Glanz der Sonne! Diese Farben. Dieser warme Schimmer.
Lange hielt sie es nicht aus. Hindrik hatte recht. Die Dracas waren zwar mutig, aber auch vernünftig. Sie hatten sich längst ein dunkles Versteck gesucht, wo sie den Tag sicher überstehen konnten. Es blieb nichts für sie zu tun.
So schleppte sich Alisa zu ihrer Kiste, legte sich hin und schloss den Deckel. Einen Augenblick später war auch sie in tiefen Schlaf versunken. Ihr Körper erstarrte.
DIEBESGUT
Leo hielt am Treppenaufgang des Palazzo Vendramin noch einmal inne und sah Alisa nach.
Komm jetzt! Sie wird schon zurechtkommen.
Daran zweifle ich nicht,
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