Die Erben der Nacht - Pyras
du ihn überhaupt? Weißt du, für was du dich einsetzt?«
»Du meinst, er ist eigentlich das Monster, für das viele Menschen dich halten?«
Erik antwortete nicht, doch Ivy wusste, dass sie seine Gedanken getroffen hatte.
»Du bist anders«, sagte er noch einmal.
»Ja, das stimmt. Jeder Vampir ist anders, auch wenn wir uns in unseren Clans entlang der Blutlinien gleichen. Das ist wie bei den Menschen. Meine Heimat ist Irland und dort war ich einst vor einhundert Jahren die Tochter einer großen Druidin.«
Erik trat vor und griff nach ihrer Hand. Zierlich, weiß und schmal mit langen Fingern und spitz zulaufenden Fingernägeln, lag sie in der seinen.
»Wenn du möchtest, können wir uns die lange Nacht mit Geschichten verkürzen. Ich schlafe nicht viel. Willst du mitkommen? Ich führe dich in mein Reich am unterirdischen See, das außer mir noch kein menschliches Auge gesehen hat.«
Ivy erwiderte den Druck seiner Hand. »Ich komme gerne mit, denn es wird dein Geheimnis bleiben. Kein menschliches Auge wird es zu sehen bekommen.«
Und so folgte Ivy dem Phantom zu seinem Versteck unter der Pariser Oper.
ERIKS VERBORGENES REICH
»Gehst du heute Abend wieder alleine aus?«, fragte Latona ihren Onkel. Der drehte sich abrupt zu ihr um. Es war nicht die Frage an sich, die er durchaus schon öfter aus ihrem Mund gehört hatte. Es war der Tonfall, der ihn verwirrt die Stirn runzeln ließ. Er hatte schon alle Nuancen von Zorn, Trotz und Wut gehört und selbst ein weinerliches Flehen, sie nicht alleine zurückzulassen. Doch heute klang die Frage sanft, fast mitleidig.
»Ja, ich gehe wieder aus. Das haben wir doch besprochen, nicht wahr? Ich unternehme am Nachmittag etwas mit dir und abends treffe ich mich mit meinem Bekannten.«
»Den du mir immer noch nicht vorgestellt hast.« Die Bemerkung schien ihr entschlüpft, ehe sie darüber nachgedacht hatte. Rasch winkte sie ab. »Ja, ich weiß, du möchtest ihn mir nicht vorstellen, da er kein rechter Umgang für ein Mädchen ist«, wiederholte sie die Worte ihres Onkels. »Ist schon gut. Ich werde zu Bett gehen. Ich nehme an, es wird wieder spät.«
Carmelo musterte seine Nichte aufmerksam. Die ungewohnte Nachgiebigkeit machte ihn misstrauisch.
»Du wirst doch nicht irgendeine Dummheit begehen, sobald ich das Hotel verlassen habe?«
»Ich? Aber nein!« Latona war die Unschuld selbst. »Nein, ich bin heute sehr müde.« Sie gähnte. »Ich werde früh zu Bett gehen. Aber morgen möchte ich mit dir noch einmal in den Jardin des Plantes. Dieses Mal in die Menagerie!«
»Was?« Er starrte sie aus weit aufgerissenen Augen an. »In den Tiergarten? Warum? Ich meine, wie kommst du darauf?«
»Weil ich mir die Tiere ansehen will«, sagte Latona. »Ist er dazu nicht da?«
»Äh, ja, natürlich. Entschuldige, ich bin heute anscheinend etwas
durcheinander. Wenn du in den Zoo möchtest, dann gehen wir selbstverständlich dorthin. Aber bitte erst am Nachmittag. Ich möchte zumindest ein paar Stunden schlafen, denn ich kann nicht garantieren, dass ich vor den frühen Morgenstunden zurück sein werde.«
»Mach dir um mich keine Gedanken«, wehrte Latona ab, sprang auf und umarmte ihren Onkel. Der erwiderte die Umarmung, trat dann aber zurück und betrachtete sie aufmerksam.
»Irgendetwas stimmt heute nicht mit dir. Sag es mir! Was ist los?«
Latona zuckte mit den Schultern und kehrte zu ihrem Roman von Victor Hugo zurück. »Nichts, was soll denn los sein?«
»Bist du etwa krank?«
Latona schüttelte vehement den Kopf. » Ich bin nicht krank!«
Vielleicht hatte sie das Wort »ich« zu sehr betont, doch falls er es bemerkt hatte, ging er nicht darauf ein. Er wollte offensichtlich nicht darüber sprechen. War ihm sein Leiden peinlich, dass er es vor seiner Nichte verbarg? Oder wusste er, dass es schlimm um ihn stand, und wollte sie nicht beunruhigen? Sie musterte ihn verstohlen. Äußerlich sah man ihm nichts an. Er schien trotz seiner fünfzig Jahre und seiner in Paris wieder zunehmenden Leibesfülle noch im Vollbesitz seiner Kräfte zu sein und auch die rote Gesichtsfarbe war alles andere als kränklich. Vielleicht war alles nicht so schlimm. Latona schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter. Hoffentlich! Was blieb ihr auf dieser Welt, wenn Carmelo etwas zustieß? Wer würde sich dann um sie kümmern? Er hatte ihr sicher nicht das Leben in Wohlstand, und Sicherheit beschert, das ihre Eltern sich für sie erwünscht hätten, doch aufregend und interessant war es gewesen.
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