Die Erben der Nacht - Pyras
befasst, die meine Mutter aufbewahrte. Großvater war Architekt, mein Vater einer seiner Steinmetze. Als junger Mann, nachdem ich das Haus meiner Mutter verlassen hatte, ging ich bei einem Baumeister in die Lehre. Ich war viele Jahre dort und habe alles über die Baukunst gelernt. Er war mein Meister, bis - ja, bis das Leben mich weitertrieb.«
Ivy hatte das Gefühl, er habe etwas anderes sagen wollen. Sie spürte eine Welle von Schmerz, aber auch Wut, und so fragte sie ihn nicht. Etwas Schreckliches war vorgefallen, das sein Vertrauen zu seinem Meister zerstört und ihn zur Flucht getrieben hatte. Das Bild eines jungen Mädchens blitzte auf, dessen Züge denen des Meisters glichen.
»Und wie kam es zu der Anlage dieses Sees?«, fragte sie stattdessen, um ihn wieder auf ungefährlicheres Terrain zu führen.
»Es war meine Idee, dem Wasser so Herr zu werden. Während der Bauarbeiten saugten wir das Wasser mit Dampfpumpen ab und legten eine doppelte Wanne an, gegen die das Gebäude mit Bitumen versiegelt wurde, um es vor der Erosion des fließenden Wassers zu schützen, denn es gibt nichts, was Stein mehr angreift und ein Gebäude schneller zerstört als Wasser!«
»Eine gewaltige Aufgabe!«, vermutete Ivy, während das Boot über den künstlichen See glitt.
»Ja, acht Monate lang stampften die Dampfpumpen, bis wir im Januar 1862 endlich das Betonfundament gießen konnten.«
Erik band das Boot an einem kleinen Steg fest und ging dann am Ufer entlang bis zu einer unauffälligen Nische, in der er irgendeinen Mechanismus betätigte. Ein Stück weiter tat sich eine Öffnung
auf. Was Ivy für massiven Fels gehalten hatte, war eine geschickt modellierte Täuschung. Ob er das bei den Bühnenbildnern abgeschaut hatte?
»Hast du schon damals entschieden, dir hier einen Ort zu schaffen, an dem du dich von der Welt zurückziehen kannst, die nicht das in dir sieht, was du bist, sondern sich stets von Äußerlichkeiten ablenken lässt?«
Er beobachtete sie durch die Schlitze seiner Maske. »Ja, so ist es. Du siehst mehr als die anderen«, murmelte er mehr zu sich selbst, ehe er zu seinem normalen Tonfall zurückkehrte. »Die Gewölbe der Fundamente sollten mein Heim werden. Die gegen die Feuchtigkeit schützenden doppelten Wände waren ideal, mir geheime Wege zu schaffen, von denen aus ich alles sehen kann, was in meiner Oper vor sich geht, aber selbst nicht entdeckt werde.«
»Deine Oper«, wiederholte Ivy nachdenklich. »Ich vermute, die Herren der Stadt und der Direktor der Oper sehen das ein wenig anders.«
»Ja, das tun sie, aber das ist mir gleich!«, erwiderte Erik heftig. »Ich habe nicht wenig zum Bau des Opernhauses beigetragen. Garnier hat dafür den Ruhm und das Gehalt bekommen. Was ich jetzt fordere, steht mir zu!«
»Ja, er bekommt den Ruhm, du die Furcht der Menschen.«
Erik hob die Schultern. »Das ist mir gleich. Sollen sie mich fürchten.«
»Was die Menschen fürchten, das verfolgen und vernichten sie«, gab Ivy zu bedenken.
Erik packte Ivy hart am Arm. »Nun, dann ist das eben der Preis. Ich werde mich nicht wieder begaffen lassen, bespucken und schlagen, dafür dass Gott bei meiner Geburt gerade woanders hingesehen hat. Ich werde mich nicht mehr ducken und auch nicht fliehen. Wenn sie mich nicht unter sich leben lassen, gut, ich bin hier glücklich in meiner Welt, aber diese werde ich mir so angenehm wie möglich gestalten!«
»Und dazu brauchst du das Geld des Direktors«, ergänzte Ivy und befreite ihren Arm aus seinem erstaunlich eisernen Griff.
»Und wenn schon«, brummte er unwillig. »Aber nun komm herein und sage mir, ob sich meine Mühen gelohnt haben.«
Er öffnete die letzte Tür, die seinen Bau vor der feindlichen Welt verschloss. Erik trat einen Schritt zur Seite und griff nach einer Art Klingelzug. Sofort flammten einige Gaslampen auf und beleuchteten ein Gemach, das von seiner Größe her einem Fürstenschloss angemessen gewesen wäre. Die Wände waren von schweren Gobelins verhängt, der Boden weich mit Teppichen und Fellen gepolstert. Die Mitte des Raumes beherrschten ein Klavier und eine Orgel, deren Pfeifen fast die gesamte hintere Wand einnahmen. Um sie herum lagen Blätter mit Notenfolgen verstreut. Rechts sah Ivy einen Diwan, einen Tisch und bequem wirkende Sessel. Ein Torbogen führte in einen weiteren Raum, in dem sie Hunderte von Buchrücken, dicht an dicht in hohen Regalen, erahnte. Auf der anderen Seite war ein Podest, auf dem Erik anscheinend schlief. Ivy trat ein
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