Die Erben der Nacht - Pyras
von der Garnieroper zu korrigieren. Ivy konnte nur staunen.
»Hast du diese Bilder ebenfalls empfangen?«, fragte sie Seymour.
Ich teile meinen Geist nicht mit Ratten, wehrte er ab.
»Die Oper muss so prächtig sein, dass ich sie mir unbedingt ansehen muss, ehe wir von Paris abreisen.«
Ivy versuchte, ihre Gedanken wieder auf ihr Ziel zu fixieren, und begriff, dass sie es bereits erreicht hatte. Das Phantom hatte sie gefunden. Es war hinter ihr, im Dunkeln in einer Nische oder hinter einer Geheimtür verborgen, und beobachtete sie. Nein, Erik konnte sie mit seinen Menschenaugen in der tiefen Finsternis nicht sehen. Das war unmöglich und doch waren seine Sinne auf sie ausgerichtet.
Aber da war noch etwas anderes. Ein bedrohlicher Schatten, der sich ihr näherte. Mehr als ein Jahr war vergangen, seit er sie in Rom zu sich gerufen hatte. Er hatte ihr angekündigt, dass er sie im Auge behalten und wieder aufsuchen werde. Dass in ihrem Jahr in Irland nichts dergleichen geschehen war, hatte sie in trügerischer Sicherheit gewiegt und sie den Vorfall fast vergessen lassen.
Ivy stöhnte leise. Ein Irrtum war ausgeschlossen. Wie um jeden noch so kleinen Zweifel auszulöschen, begann der Echsenring an ihrem Finger zu brennen, als würde er von Flammen umlodert. Ivy umklammerte ihre Hand und wich langsam zurück, auch wenn ihr klar war, wie unsinnig diese Reaktion war. Er ließ sich nicht aufhalten. Durch nichts und niemanden. Seymour winselte und kniff den Schwanz zwischen die Hinterbeine. Der Druck dieser unbekannten Macht war anscheinend so groß, dass Seymour sich nicht wandeln, ja nicht einmal mehr seine Gedanken in Worte fassen und mit Ivy teilen konnte.
Ivy spürte, wie sich der Schatten verdichtete und die Form eines großen Mannes annahm. Sie wagte nicht, ihn anzusehen, widerstand aber dem Drang, vor ihm auf die Knie zu fallen. Sie ahnte mehr, als dass sie sah, wie sich seine Hand näherte, um sie zu berühren. Sie wusste nicht, warum, doch ihr kam es vor, als wäre es ihr Ende, würde ihm das gelingen.
Ivy nahm all ihre Kraft zusammen, um sich dagegen zu wehren.
Das Feuer in dem Echsenring schien zu erlöschen, doch die Vampirin fühlte sich wie zwischen zwei Mühlsteinen zerquetscht.
Da flammte plötzlich Licht im Korridor auf. Ein gleißend helles Licht, das Ivy an den Fotografen Nadar und seine Arbeit in den Steinbruchhöhlen erinnerte. Sie kniff die Augen so fest zusammen, wie sie nur konnte. Dennoch fuhr ein Schmerz von ihren Lidern bis in den Kopf. Den mächtigen Schatten aber schien es noch stärker zu treffen. Sie spürte seine Überraschung und dann seinen Schmerz, vermischt mit Wut, die sie rückwärts gegen die Wand schleuderte. Dann begann er, sich aufzulösen. Er zog sich zurück. Die Macht verwehte, noch ehe das grelle Licht verlosch.
Ivy wartete, bis es wieder dunkel hinter ihren Lidern wurde, dann erst öffnete sie die Augen. Es war stockfinster um sie herum, und dennoch wusste sie, dass das Phantom nur wenige Meter von ihr entfernt in ihre Richtung sah.
»Seien Sie gegrüßt, Monsieur Erik, Phantom der Oper. Wenn Sie ein wenig näher kommen, können wir uns unterhalten. Und ein wenig Licht wäre sicher hilfreich. Ich meine natürlich, nicht ganz so viel wie eben. Ich nehme an, das war Ihre Magie? Sie kam zur rechten Zeit, den Schatten zu verjagen, der mir nichts Gutes wollte. Ich habe Ihnen zu danken.«
Ivy sandte ihren Geist aus, um den seinen zu erfassen. Sie fühlte sein Zögern. Er erwog, sich zurückzuziehen. Er war eher verunsichert als erzürnt über ihr erneutes Eindringen. Ivy versuchte, beruhigend auf ihn einzuwirken und gleichzeitig ein wenig seine Neugier anzustacheln. Sie gab sich nicht die Blöße, nach seinem Versteck zu suchen. Womöglich die Wände abzutasten oder auf dem Boden herumzukriechen, um einen verborgenen Mechanismus zu finden. Ivy stand einfach nur da, in ihrem silbrig schimmernden Gewand, das seltsamerweise weder zerknittert noch schmutzig war. Nur der Saum war nass und daher ein wenig dunkler. Ihre nackten Füße lugten darunter hervor. Seymour hatte neben ihr Platz genommen. Hoch aufgerichtet saß er da. Ihre Hand ruhte auf seinem Kopf. Sie wusste, dass Erik noch da war, doch noch hatte er sich nicht entschieden.
Zeige dich! Komm zu mir, forderten ihre Gedanken ihn auf. Nur Augenblicke
später flammte ein helles Licht auf, nicht so hell wie vorher, doch grell genug, dass es Ivy für einen Moment zwang, die Augen zu schließen. Als sie sie wieder öffnete,
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