Die Erben der Nacht - Pyras
gelesen, die sich über Europa zerstreuten.«
Ivy und der Wolf starrten ihn an. »Du hast über die Vampirclans gelesen? Wo? Ich meine, welche Bücher gibt es über uns und unsere Geschichte, und wie kam es, dass sie in deine Hände gerieten? In Menschenhände!«
Nun war es an Erik, erstaunt dreinzusehen. »Du glaubst, die Menschen wissen nichts über euch? Es mag sein, dass manche der Schriften von Vampiren selbst verfasst wurden. Nach dem, was du mir erzählt hast, vermute ich nun, es waren vor allem Vampire unreinen Blutes, die nach ihrer Wandlung noch so viel Menschliches hatten, dass sie begannen, ihre neuen Erfahrungen niederzuschreiben. Doch viele der Aufsätze und Bücher stammen von Menschen. Ich habe sie auf meinen Reisen gesammelt und hierhergebracht.« Er deutete zu dem Torbogen hinüber, hinter dem Ivy schon bei ihrem ersten Besuch die vielen Bücherregale entdeckt hatte.
»Die meisten stammen aus den Ländern im Osten, dem Russischen Reich, Ungarn, Rumänien oder dem Persischen Reich. Sie alle haben ihre Legenden und Sagen um blutsaugende Wesen, die Untoten, die Wiedergänger, die aus dem Grab steigen, Kinder und Jungfrauen rauben, ihr Blut trinken, das Vieh an Seuchen sterben lassen. Sie kommen als Fledermäuse und Nebel, als Albdruck und schöne, bleiche Menschen mit spitzen Zähnen. Stets in der Nacht, denn die Sonne vernichtet ihre Kräfte. Gegen sie helfen Weihwasser und Kreuze, aber auch Knoblauch und manch anderes Kraut. Manches davon ist wahr, anderes nicht. Man muss die Berichte genau vergleichen
und stets berücksichtigen, wer der Verfasser ist und in welchem Zustand er sich befand, als er von seinem Erlebnis berichtete.«
Sie gingen gemeinsam durch das Gemach und unter dem Torbogen hindurch. Der Raum dahinter war größer, als man es hätte erahnen können, und enthielt noch viel mehr Bücher. Sie stapelten sich dicht an dicht, füllten deckenhohe Regale. Schränke mit alten Schriftrollen und nachlässig zu Paketen geschnürte Pergamente standen zur Linken. Dieses Kabinett war ein Vermögen wert und barg einen Schatz an Wissen quer durch die Jahrhunderte. Ivy las einige Aufschriften auf den Rücken der ledernen Folianten, während Erik weiter über Vampire sprach. Die Bücher waren in einem Dutzend verschiedener Sprachen verfasst. Wie viele davon beherrschte das Phantom mit der Maske?
»Du bist klug und du weißt sehr viel über uns«, meinte Ivy.
»Ja, mein Interesse war bereits geweckt, als ich das erste Mal von Wiedergängern und Blutsaugern hörte. Das war bei den Zigeunern, mit denen ich einige Zeit umherzog.« Seine Stimmung verdüsterte sich. Es war, als habe man die Kerzen der Leuchter ausgeblasen. Ivy fing seine Gedanken auf. Sie wankte ein wenig zurück. Die Erinnerungen glichen finsteren Albträumen von einem Käfig und einer gaffenden Menge. Sie sah Erik als mageren, verstörten Jungen in einer Ecke kauern, das entstellte Gesicht in den Händen vergraben. Ein riesiger, fetter Mann mit öligem schwarzen Haar hielt seine Maske hoch. Das Publikum johlte. Sie schrien, sie wollten den Totenschädel sehen, den man ihnen versprochen hatte. Kleine Steine flogen durch die Stäbe und trafen Erik an Kopf und Schultern. Der Mann packte seine Peitsche, schlug auf ihn ein und schrie wüste Worte, doch Erik reagierte nicht. Da rief sein Peiniger einen Gehilfen zu sich in den Käfig. Gemeinsam packten sie Erik und zerrten ihn zum Gitter zurück. Sie fesselten seine Fußknöchel und Handgelenke an die Stäbe und schlangen grob ein Seil um seinen Hals, das sie ebenfalls am Gitter befestigten, sodass er den Kopf nicht senken konnte, wollte er sich nicht selbst erwürgen. Die beiden Männer brauchten all ihre Kraft, um den schmächtigen Knaben zu bändigen. Seine Verzweiflung und sein Schmerz schlugen über Ivy zusammen.
Sie zitterte und musste sich zusammenreißen, um sich nicht auf dem Boden zusammenzukauern. Schließlich berührte sie sanft Eriks Arm. Er zuckte zusammen und starrte sie so wild an, als wollte er sich in seinem Zorn auf sie stürzen.
»Und wann fingst du an, die Bücher und Aufzeichnungen zu sammeln?«, fragte sie leichthin, als habe sie nichts bemerkt. Vielleicht war das besser als ihr Mitgefühl.
Erik straffte die Schultern. Die Erinnerungen verwehten. Er war wieder ruhig und freundlich, ja fast heiter. »Das hier drüben war mein erstes.« Er reckte sich und reichte ihr einen alten Band in fleckigem braunen Leder. Ivy schlug ihn auf.
»Was sind das für Zeichen? Kannst
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