Die Erben der Nacht - Pyras
du sie entziffern?«
»Aber ja!«, lachte er. »Das ist Russisch. Soll ich dir etwas daraus vorlesen? Hier, diese Stelle fand ich besonders spannend. Ja, ich glaube, als ich das hier las, war mein Interesse geweckt, und ich entschloss mich, mehr über Vampire herauszufinden.«
Er las die Passage erst auf Russisch vor und übersetzte sie dann. Nun nahm er einige Papiere aus Siebenbürgen zur Hand und anschließend einen prächtigen Folianten mit Ledereinband und Goldschnitt, der aus Persien stammte. Mit all diesen Sprachen schien er keine Schwierigkeiten zu haben.
»Du versetzt mich immer mehr in Erstaunen«, sagte Ivy, als er das Buch fast liebevoll ins Regal zurückstellte. »Deine Talente und dein Wissen scheinen unerschöpflich. Dabei kannst du noch gar nicht so viele Jahre auf der Welt sein.«
»Fast fünfzig!«, widersprach Erik. »Das ist schon eine ordentliche Zahl an Jahren, um zu lernen und Erfahrungen zu sammeln. Für einen Menschen natürlich. Und wie ist es mit dir? Du siehst noch sehr jung aus, scheinst aber über große Kräfte zu verfügen - auch wenn der andere Vampir dir überlegen war.«
»Meine Zeit in der Welt der Untoten bringt es auf zwei Mal deine Lebensspanne.«
»Ah, dann gehörst du nicht zu den Vampiren reinen Blutes. Du warst einst ein Mensch. Ein junges Mädchen, als du gebissen und zum Vampir gewandelt wurdest.«
Ivy nickte. »Das ist richtig. Vor einhundert Jahren wurde ich zum Vampir.« Plötzlich hielt sie inne. »Wer ist dieser andere Vampir, von dem du gerade gesprochen hast?«
Erik wandte sich ihr erstaunt zu. »Der riesenhafte Vampir mit dem schwarzen Umhang, der dir nun schon zum zweiten Mal in meinem Revier aufgelauert hat. Das erste Mal gelang es mir, ihn mit meinem Magnesiumblitz zu verjagen, dieses Mal war ich leider nicht zur Stelle. Aber du bist ihm trotzdem entkommen.«
Ivy verengte die Augen zu Schlitzen. »Woher weißt du das, wenn du nicht zur Stelle warst?«
»Du hast von ihm gesprochen, während du in deiner Ohnmacht lagst.« Erik beugte sich vor und nahm ihre Hand. »Du trägst seinen Ring!«
Hastig entzog Ivy ihm die Hand und verbarg den Echsenring in ihrem Ärmel. »Du nennst den Schatten einen Vampir. Wie kommst du darauf? Habe ich das gesagt?«
»Nein, das musstest du nicht. Es war mir sofort klar. Er ist doch ein Vampir, oder?«
Ivy nickte nachdenklich. »Ja, er ist ein Vampir. Der Meister.« Sie wunderte sich selbst, warum sie ihn so nannte. Das Wort war plötzlich in ihr aufgestiegen und schien das richtige zu sein. »Der Meister«, wiederholte sie leise, und ein Schauder rann ihr über den Rücken.
»Reden wir von etwas anderem«, schlug Erik vor und klappte das Buch, das er aus dem Regal gezogen hatte, energisch zu. »Soll ich dir die Oper zeigen?«
Ivy sah an ihrem einfachen Gewand hinunter. »Ich glaube nicht, dass dies der richtige Aufzug dafür ist.«
Erik lachte. »Die Vorstellung ist längst vorüber und alle Besucher und Darsteller sind nach Hause gegangen. Es sind nur noch ein paar der Bühnenarbeiter da, die in den Kulissen zu schlafen pflegen, und die alte Schließerin, die in ihrem Zimmer ruht. Niemand wird uns sehen.«
Ivy haderte mit sich. »Ich würde wirklich gerne, doch ich fürchte, es ist schon zu spät für mich. Es wird Zeit für den Rückweg.«
Erik versuchte, seine Enttäuschung zu verbergen. »Kein Sonnenstrahl
wird dich treffen. Ich kenne Wege, von denen die Finsternis nie weicht.«
»Dennoch muss ich vor Sonnenaufgang zu meinem Ruhelager zurückkehren.«
»Deinem Sarg?«
Ivy nickte. »Ja, meinem Sarg. Ich würde jedoch gerne wiederkommen und dein Angebot annehmen.«
Erik verbeugte sich. »Es wird mir ein Vergnügen sein. Ich werde dich jede Nacht erwarten. Komm, wann immer du möchtest.«
Ivy zögerte. »Ich würde das nächste Mal gerne mit meinen Freunden kommen. Alisa lechzt danach, die Oper zu sehen.« Erik wich ein Stück zurück. Sie spürte seine Abwehr. »Bitte, du kannst ihnen vertrauen. Gib ihnen die Chance, dir zu zeigen, dass auch sie deiner Freundschaft wert sind.«
Erik schwankte. Sie konnte den raschen Wechsel seiner Gefühle spüren. »Wenn du in Begleitung kommst, dann wird der Meister es nicht wagen, sich dir zu nähern«, sagte er nach einer Weile.
»So ist es«, stimmte ihm Ivy zu, obwohl sie zu wissen glaubte, dass sie ihm in Paris nicht mehr begegnen würde. Hatte er sein Vorhaben aufgegeben? Nein! Diese Hoffnung durfte sie nicht hegen. Er hatte sich nur zurückgezogen. Weil er zu
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