Die Erben der Nacht - Pyras
Die
jungen Vampire konnten auf ihrem Beobachtungsposten nur erahnen, was sich dort unten abspielte.
»Kommt, wir gehen zu ihnen. Sie werden ihren Durst schnell gestillt haben und die Höhle dann verlassen. Nicht dass wir sie jetzt noch verfehlen.«
Mit den Sinnen ihrer Ratte fiel es Alisa nicht schwer, Joanne und Fernand zu folgen, die schon auf halbem Weg nach unten waren. Ivy nahm Luciano sicherheitshalber an die Hand.
Der Blutgeruch war überwältigend. Alisa schluckte trocken und spürte, wie ihre Eckzähne mit Macht hervorbrachen. Es fiel ihr schwer, sich auf ihre anderen Sinne zu konzentrieren. Die Gier schien sie auszufüllen und für alles andere blind und taub zu machen. Was würde der Geschmack auslösen, wenn schon allein der Geruch von Menschenblut sie so aus der Fassung brachte? Alisa schüttelte wild den Kopf, um klar zu werden. Da spürte sie Ivys kalte Hand in der ihren. Ihre Gedanken halfen ihr, den Rausch zu bekämpfen, bis ihre Sinne wieder normal funktionierten.
»Danke«, wisperte sie.
Alisa konnte zwar nicht viel sehen, doch ihre Witterung führte sie direkt auf den Kreis der Menschen zu, die mit blutenden Wunden am Hals auf dem Boden kauerten. Die Vampire hatten ihre Mahlzeit beendet und von ihren Opfern abgelassen. Was nun aus ihnen wurde, war ihnen gleichgültig. Vermutlich waren sie nicht so geschwächt, dass es sie das Leben kosten würde. Für einige Stunden jedoch würden sie hier apathisch liegen oder in tiefen Schlaf fallen. Dann würden sie erwachen und verwirrt nach ihren Erinnerungen suchen. Vielleicht würden sie sich noch an den Ziegenbock und den tanzenden Teufel erinnern und dieses atemberaubende Abenteuer mit nach Hause nehmen. Das Spektakel hatte sich gelohnt und war jede Münze wert, die sie dafür gezahlt hatten. Sie wussten nun, dass man den Höllenfürsten nicht ungestraft beschwören durfte, und waren Gott und seinen Heiligen dankbar, dass ihre Seele dennoch gerettet und sie selbst mit dem Leben davongekommen waren. Das war eine Geschichte, die man hinter vorgehaltener Hand noch seinen Enkeln berichten konnte.
Was allerdings die Veranstalter davon hielten?, fragte sich Alisa amüsiert. Dass sie mit ihrem Betrug Satan erzürnt und tatsächlich auf den Plan gerufen hatten? Das würde ihnen eine Lehre sein!
NUR EIN HAUCH VON SCHWÄCHE
Malcolm sah, wie die beiden Pyras mit den Freunden und dem weißen Wolf im Schlepptau aus der Höhle verschwanden. Er folgte ihnen die Treppe hinauf bis in die große Halle. An Unterricht war im Moment nicht zu denken. Die Pyras und die Erben mit ihren Servienten schwirrten umher wie ein aufgeregter Bienenschwarm.
Sollte er wirklich gehen? Malcolm sah sich suchend um. Niemand achtete auf ihn. Die meisten Erben lauschten den Gesprächen der Pyras, um mehr zu erfahren. Die Servienten waren an ihrer Seite und achteten auf ihre Schützlinge - außer Vincent, der kindliche Vyrad, der wie üblich in seinem aufgeklappten Sarg saß, so in die Lektüre eines neuen Buches vertieft, dass nichts und niemand ihn hätte stören können. Der Einzige, der hin und wieder zu ihm herübersah, war Raymond. Malcolm wartete ab, bis er sich zu Rowena umwandte, um sich unbemerkt aus der Höhle zu schleichen.
Den Weg zu finden, bereitete ihm keine Schwierigkeiten. Er war ihn ja bereits mit Fernand gegangen. Außerdem musste er feststellen, dass das Training der Pyras die Sache erleichterte. Er hätte nicht gedacht, hier etwas Nützliches lernen zu können. Auch die Sache mit den Ratten war gut. Malcolm rief sich gleich zwei der Nager und stellte sie in seinen Dienst. Sollten sie erschnüffeln, ob der Weg vor ihm frei war. Auf unliebsame Überraschungen legte er keinen Wert.
Schon bald hatte Malcolm den Ausstieg erreicht, der ihn in den Jardin des Plantes führte. Er kletterte ins Freie und sah sich um. Der Park lag verlassen und düster da, wie es sich für diese Nachtzeit gehörte. Ab und zu erklang der Schrei eines exotischen Tieres. Malcolm witterte nach allen Seiten. Natürlich stieg ihm der Geruch zahlreicher Menschen in die Nase, die diesen Weg heute entlanggegangen waren, der Duft, nach dem er suchte, war jedoch nicht
darunter. Dennoch hatte er Hoffnung. Es gab viele Wege durch den Park und den Tiergarten.
Malcolm querte den Hauptweg und sprang über die Abzäunung, die den Botanischen Garten vom Tierpark trennte. Er eilte an dem Haus mit den sechseckigen Pavillons vorbei auf die andere Seite des Parks zu dem künstlichen Felsen, an dessen
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