Die Erben der Nacht - Pyras
schon ganz müde und es verlangt mich nach meinem Sarg!«
Vincent ließ die Arme sinken und sah nun fast traurig aus. »Das ist nichts, worüber du spotten solltest. Ich habe so eine Ahnung, dass das erst die Spitze des Eisberges ist und es noch viel schlimmer kommt.«
Malcolm ließ sich durch diesen Stimmungswechsel nicht einschüchtern. Erst Zorn, dann düstere Ahnungen? Was würde der kleine Servient als Nächstes versuchen? Betont heiter grinste er ihn an und schlug ihm auf den Rücken.
»Mach nicht so ein Gesicht. Schau, ich habe etwas gefunden, das dich interessieren wird.«
Malcolm zog die Karte hervor, trat an einen von Vincents Büchersärgen und breitete sie darauf aus. Wie erwartet ließ sich Vincent von seiner Strafpredigt ablenken.
»Lass sehen. Eine Karte von Paris?«
»Paris souterrain «, präzisierte Malcolm. »Gar nicht schlecht, was?«
»Ja, das ist interessant«, sagte Vincent langsam und beugte sich über das Blatt.
»Wohin jetzt?«, fragte Alisa.
Während die Pyras - allen voran Seigneur Lucien - zu den Kavernen unter dem Val de Grâce zurückeilten, machten sich die Freunde unter Joanne und Fernands Führung auf, die anderen Pyras zu suchen und zu ihrem Clanführer zu rufen.
»Lucien sagt, Sébastien und die anderen halten sich irgendwo in der Nähe des Jardin du Luxembourg auf, das heißt, in den Höhlen unter dem ehemaligen Kartäuserkloster, wo die Mönche ihren Likör gebraut und gelagert haben.«
»Wie kommen wir am schnellsten dorthin?«, fragte Ivy.
Joanne musste nicht überlegen. »Zu den Katakomben, dann den
langen, geraden Gang nach Norden, an der Kreuzung nach Westen, dann sind wir schon unter dem südlichen Ende des Parks, der e igentlich noch zum Observatorium gehört.«
»Also, dann los«, drängte Alisa und gesellte sich zu Fernand, der wieder einmal seine Ratte vorgeschickt hatte, um rechtzeitig vor umherstreunenden Menschen oder anderen unliebsamen Überraschungen gewarnt zu sein. Tammo wich nicht von seiner Seite. Kurz darauf erreichten sie den Teil der Steinbrüche, der von Knochen und Schädeln ausgefüllt war, verließen den Pfad aber sogleich wieder, der von den Besucherschwärmen begangen wurde, obgleich es hier heute Nacht keine Menschen gab. Fernand bog um die nächste Ecke, Alisa dicht hinter ihm. Sie hatte es geschafft, eine Fledermaus aufzuspüren, und ließ sich die Umgebung von ihr zeigen. Die Ratten waren zwar auch gut und eigentlich leichter zu führen, doch das Schallbild der Fledermaus war unübertroffen in seiner Detailgenauigkeit, während die Ratten eher ein grobes Bild lieferten, das sich mehr an Gerüchen orientierte. Da tauchte plötzlich eine kleine Burg in ihrem Geist auf. Sie maß etwa drei Schritte. Was war denn das? Alisa blieb stehen und befühlte den sauber mit Hammer und Meißel bearbeiteten Fels. Joanne kam hinter ihr zum Halten.
»Es ist ein echtes Kunstwerk geworden, nicht wahr?«, sagte sie.
»Hat einer der Pyras das erschaffen?«, wollte Ivy wissen.
Joanne lachte und schüttelte den Kopf. »Nein, mit solchen Dingen vertreiben wir uns nicht die Zeit. Das hat vor einhundert Jahren ein Mann namens Décure aus dem Fels gemeißelt, der für den inspecteur des carrières hier unten arbeitete - und auch hier unten blieb! Ich denke, seine Überreste sind dort irgendwo drüben unter dem großen Steinhaufen. Diese Burg ist übrigens ein Modell des Gefängnisses von Port Mahon. Dort war Décure einige Jahre als Kriegsgefangener der Engländer eingesperrt. Als er dann hier unten die Arbeit aufnahm, begann er mit diesem Modell. Gaston sagt, er hat sechs Jahre wie besessen daran gearbeitet und ist während dieser Zeit niemals nach oben gegangen. Décure hatte sich die Höhle zu einem Salon eingerichtet. Seht, dort drüben ist der Tisch mit zwei Bänken. Als er dann allerdings noch eine Treppe zur höheren Ebene schlagen wollte, gab
die Decke nach, und es entstand eine der gefährlichen fontis , wie die Menschen sie nennen. Die Decke bricht ein, und es lösen sich in Form eines Zuckerhuts immer neue Schichten darüber, bis sie zur Oberfläche durchbricht und dort einen Krater bildet. Das war Décures Verhängnis. Doch lasst uns weitergehen.«
Sie folgten dem langen geraden Stollen erst nach Norden und dann nach Westen. Zum Park hinauf wählte Joanne einen engen, gewundenen Gang, da hier unter der alten Zollmauer so gut wie alle ursprünglichen Verbindungsgänge zwischen den Kavernen zugemauert worden waren, als den Machthabern aufging, wie
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