Die Erben der Nacht - Pyras
Sekretär enthielt Schreibutensilien und Papier. Was seine Aufmerksamkeit erregte, war eine Karte, die auf dem Tisch ausgebreitet lag. Sein Französisch war nicht sehr gut, doch er erkannte, dass es ein Stadtplan von Paris war. Die Straßen und Häuserblocks an der Oberfläche waren allerdings nur als Umrisse in blasser Farbe zu sehen - es war eine carte du Paris souterrain. Malcolm beugte sich interessiert darüber. Dort verlief die Seine. Die verschieden dicken blauen Linien sollten wohl die Abwasserkanäle darstellen, die sich in den Sammler ergossen. Er fand auch den Siphon, der das Schmutzwasser unter dem Flussbett hindurchführte, um es zusammen mit dem aus dem nördlichen Sammler seineabwärts zu schaffen. Die Linien und Flächen von dunklerem Blau waren vielleicht das Trinkwasser, das in langen Aquädukten herangeführt und in dem riesigen, unterirdischen Reservoir unter dem Parc Montsouris gespeichert wurde. Andere Linien und Flächen waren mit carrières beschriftet. Die Erben hatten im Laufe ihrer Übungen ja bereits einen Teil der alten Steinbrüche erkundet, doch dass das Labyrinth so weitläufig war, hätte Malcolm nicht gedacht. Da die Gänge in verschiedenen Ebenen verliefen, hatten die Menschen versucht, durch Schraffuren und unterschiedliche Farbtiefen der Höhenlage gerecht zu werden. Malcolm hatte keine Schwierigkeiten, in seinem Geist ein räumliches Bild entstehen zu lassen. Ein paar gewundene Verbindungen zwischen den Kavernen waren mit dünnen grünen Linien markiert und mit contrebande beschriftet. Ah, das waren die Wege, die die Schmuggler unter der Zollmauer gegraben hatten. In einer weiteren Farbe waren Linien ergänzt, die sternförmig von mehreren Knotenpunkten aus verliefen und dann den Abwasserkanälen oder anderen Gängen folgten. Réseau pneumatique stand in der Legende. Eine gestrichelte Linie führte vom Hôpital Cochin nach Norden und dann weiträumig im Kreis um einen fast leeren Fleck. Was war das? Müssten hier nicht die Kammern des Val de Grâce eingezeichnet sein? Von allen Seiten näherten sich
Gänge, durch die Malcolm schon selbst geschritten war, endeten dann aber diffus wie im Nebel. Nur ein paar gestrichelte Linien gaben vage die Lage einiger Kavernen an. Malcolm versuchte, die dünnen Buchstaben an der Seite zu entziffern. Was sollte das heißen? Cartes historiques? Für einen Moment war Malcolm verwirrt, dann verstand er. Das war der magische Schutz der Pyras, der Wall aus Furcht, der um ihr Domizil gezogen war. Die Vermesser hatten sich nicht weiter nähern können und so die Karte mehr schlecht als recht mit Informationen aus älteren Dokumenten ergänzt. Und auch die neue Leitung für Druckluft hatten sie nicht auf dem direkten Weg durch das Gebiet der Pyras bauen können, sondern in einem Kreis um die Zone herumgelegt. Malcolm grinste. Offensichtlich waren die Pyras fähiger, als er ursprünglich angenommen hatte. Die Karte gefiel ihm. Kurzentschlossen faltete er sie zusammen und steckte sie ein, ehe er sich auf den Rückweg machte.
Falls Malcolm gehofft hatte, er werde die Höhle so unbemerkt wieder betreten, wie er sie verlassen hatte, so täuschte er sich. Kaum hatte er den ersten Schritt hineingesetzt, als sich ihm eine kleine und sichtlich erboste Gestalt in den Weg stellt. Dahinter tauchten Rowena und Raymond auf. Während Rowena den üblichen verträumten Ausdruck zur Schau trug, wandelte sich Raymonds Miene von besorgt in erleichtert. Der Servient dagegen war sichtlich erzürnt.
»Was denkst du dir eigentlich?«, herrschte ihn Vincent mit seiner hellen Stimme an. Malcolm hatte gelernt, den Servienten nicht nach seinem kindlichen Äußeren zu beurteilen. Vincent war eine ernst zu nehmende Persönlichkeit mit einem großen Erfahrungsschatz, dennoch war Malcolm nicht bereit, sich ihm wie ein ungezogener Junge unterzuordnen, daher antwortete er kühl:
»Ich war unterwegs. Ist etwas dagegen einzuwenden? Soviel ich weiß, sind die Pyras noch immer zu sehr mit ihren eigenen Problemen beschäftigt, um sich um eine sinnvolle Ausbildung zu kümmern.«
Damit konnte er Vincent nicht aus dem Konzept bringen. »Ja, es findet im Moment kein Unterricht statt, aber das heißt nicht, dass jeder machen kann, was er will. Wir wissen ja noch gar nicht, was
los ist. Ob es eine Bedrohung gibt, und wenn ja, in welcher Gestalt sie auf uns zukommt.«
»Eine Bedrohung? Die Schlafkrankheit für Vampire? Das ist doch einmal etwas Neues«, spottete Malcolm. »Ich fühle mich auch
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