Die Erben der Nacht - Pyras
Fortschritten zufrieden, wenn Alisa sein Gebrumm richtig interpretierte. Dann richtete er seinen Blick auf die beiden altehrwürdigen Vampirinnen, die immer noch wirkten, als wären sie in einem Traum gefangen. Eine Weile musterte er sie schweigend, dann rief er sie mit barscher Stimme zu sich.
»Geht euch stärken. Das kann ja keiner mitansehen. Und achtet darauf, dass ihr dieses Mal bekömmliches Blut zu euch nehmt.« Die beiden gingen leicht schwankend davon.
»Man sollte meinen, so etwas passiert nur jungen, unerfahrenen Vampiren«, murmelte er, »aber offensichtlich werden nicht nur Menschen im Alter senil.«
»Und, was habt ihr in Erfahrung gebracht?«, fragte Henri. Die jungen Vampire spitzten die Ohren.
»Nicht viel. Die Menschen scheinen ihre Patrouillen endgültig eingestellt zu haben, wobei ich mir immer noch nicht denken kann, wozu sie eigentlich dienten, denn erreicht haben sie ja damit nichts. Und auch von der Suche nach Thibaut weiß ich nichts Neues zu berichten. Er scheint wie vom Erdboden verschluckt.«
Falls die Freunde gehofft hatten, nun, da die Menschen ihre Besuche in der Unterwelt eingestellt hatten, wieder mehr Freiheiten zu genießen, so wurden sie enttäuscht. Offensichtlich hatten Seigneur Lucien und seine Getreuen Gefallen daran gefunden, die Erben von ihren Altehrwürdigen beschäftigen und überwachen zu lassen, während sie selbst es sich bei ihren nächtlichen Ausflügen gut gehen ließen - so zumindest drückte es Luciano in seiner Empörung aus. Auch Alisa war unzufrieden.
»Wenn es uns nicht bald gelingt, ihrer Aufmerksamkeit zu entkommen, dann können wir den Opernbesuch vergessen.«
»Vielleicht sollten wir Seigneur Lucien ganz offiziell um Erlaubnis bitten«, schlug Ivy vor.
»Bei dem Kulturverständnis, das die Pyras zeigen, eine ganz prächtige Idee«, meinte Franz Leopold sarkastisch.
»Warten wir noch ein paar Nächte. Vielleicht bekommen sie das Ganze schnell über«, hoffte Luciano.
An diesem Abend wirkte Henri noch älter als in der Nacht zuvor und Martine war in ihren Anweisungen unkonzentriert und ein wenig fahrig in ihren Bewegungen. Zweimal stolperte sie über eine Unebenheit am Boden und lehnte sich dann eine Weile mit geschlossenen Lidern gegen eine Säule. Die Erben tauschten fragende Blicke.
»Wo zum Henker sind die beiden nun schon wieder?«, polterte Martine, deren Laune heute einem Gewittersturm glich. »Ich geh sie holen, und wehe, sie haben wieder verschlafen!«
»Ich komme mit.« Henri tappte hinter ihr her.
Einige Erben schlossen sich an und folgten den beiden Pyras die Treppen zur untersten Ebene des ehemaligen Steinbruchs hinunter. Hier im Quartier der Altehrwürdigen waren sie bisher noch nicht gewesen, und so trieb sie die Neugier zu sehen, wie die alten Pyras hausten.
»Schlicht!«, war das Einzige, was Alisa dazu einfiel. Selbst für eine Vamalia, deren Gemächer ebenfalls auf jeden Zierrat oder Schmuck verzichteten, war die karge Kaverne mit ihren einfachen Holzsärgen zu spartanisch gehalten.
»Nein, mit überflüssiger Bequemlichkeit halten die sich hier nicht
auf«, meinte Luciano, der sicher an die üppigen Ruhebetten, die Statuen, Gemälde und vergoldeten Säulen dachte, die im Flügel der Domus Aurea, den die Altehrwürdigen der Nosferas bewohnten, zu finden waren.
»Seltsam«, hauchte Ivy und sah sich um. Sie tauschte beunruhigte Blicke mit Seymour, der leise jaulte.
»Ja, seltsam, aber so sind die Pyras halt«, meinte Luciano mit einer lässigen Geste.
»Ich glaube nicht, dass Ivy den fehlenden Zierrat und die nicht vorhandenen Samtbezüge meint«, korrigierte Franz Leopold. »Hier ist etwas oberfaul.«
Sie sahen, wie Henri zu einer Reihe geschlossener Särge schritt und nacheinander die Deckel aufklappte. Alisa entfuhr ein Ausruf des Erstaunens. Sie waren nicht leer, wie man es Stunden nach Sonnenuntergang erwartet hätte. Einige der Pyras bewegten sich nun und setzten sich langsam auf. Andere blieben, in ihrer Todesstarre gefangen, bewegungslos liegen. Ganz am anderen Ende, wo ein Durchgang zu den ein wenig höher gelegenen Höhlen der fremden Servienten führte, saßen Ghislaine und Chloé auf ihren Särgen. Als sie Henri und Martine sahen, erhoben sie sich schwerfällig und kamen auf sie zu.
Wenn schon Henri alt aussah, so schienen die beiden geradewegs dem Grab entstiegen - nachdem die Verwesung schon einige Tage ihr Werk getan hatte -, so zumindest beschrieb Luciano den Eindruck, den sie heute machten, und die
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