Die Erben der Nacht - Pyras
bereute er es bereits, ihnen sein Versteck gezeigt und sie in die Oper eingeladen zu haben. Dennoch war Eriks Stimme ruhig und freundlich, als er sie am Seeufer empfing und sie zu einem großen Raum mit gewölbter Decke führte, wo sie sich für die Oper umziehen konnten. Anna Christina zog die Nase hoch und beschwerte sich über das ungastliche Quartier, das allerdings nicht unbequemer war als die alten Steinbruchkavernen der Pyras. Und mit den großen Spiegeln in Eriks Gemach hätten sie sowieso nichts anfangen können. Dennoch sah Anna Christina missmutig drein. Wahrscheinlich ärgerte sie sich darüber, dass sie Eriks Versteck nicht zu Gesicht bekam, vermutete Alisa.
»Möglich«, sagte Ivy zurückhaltend. Sicher hatte sie die Antwort in Anna Christinas Gedanken gelesen, war aber wieder einmal nicht bereit, ihr Wissen mit Alisa zu teilen.
Die sechs jungen Vampire umrundeten die Galerie und schritten durch den Mondsalon ins große Foyer. Die Räume erstrahlten im hellen Glanz der Lüster und über allem lag der berauschende Duft vieler Menschen. Luciano duckte sich ein wenig, als sie an einem Spiegel vorbeischlenderten.
»Vielleicht sollten wir die Spiegel meiden«, raunte Alisa dem Dracas an ihrer Seite zu.
»Ein guter Rat, aber gar nicht so einfach in die Tat umzusetzen. Es gibt hier einfach zu viele Spiegel.«
So waren die Erben ganz froh, als der letzte Gong erklang, der die Zuschauer zu ihren Plätzen rief. Zwar beharrte Anna Christina darauf, dass es schrecklich unelegant sei, die Loge aufzusuchen, solange der Vorhang sich noch nicht gehoben hatte, doch schließlich gab sie nach. Vielleicht waren ihr die Spiegel auch unangenehm. Dagegen schien ihr Malcolms Begleitung mehr als nur angenehm zu sein. Alisa
hörte sie zwei Mal hell auflachen über etwas, das Malcolm ihr zugeflüstert hatte. Alisa verrenkte den Hals und bewegte sich ein wenig in die Richtung der beiden, um zu hören, über was sie sprachen.
»Möchtest du tauschen? Ich bringe dich hin und reiße meine Cousine aus seinen Armen. Nun, was sagst du?«
Alisa erwog für einen Augenblick, das Angebot anzunehmen, doch ihre Angst vor dem, was Franz Leopold zu Malcolm sagen würde, hielt sie zurück.
»Nein danke, ich bin ganz zufrieden so«, sagte sie ein wenig steif, sodass der Dracas in lautes Lachen ausbrach.
»Das Lügen müssen wir noch ein wenig üben«, spottete er, während er Alisa auf die Logentür mit der Nummer fünf zuführte.
Erik war noch nicht da und so machten es sich die sechs jungen Vampire auf den dunkelrot bezogenen Sesseln bequem. Alisa drängte sich sogleich nach vorn, um gut sehen zu können. Luciano überließ Ivy den zweiten vorderen Sessel mit einer Verbeugung. Alisa lehnte sich über die Brüstung und betrachtete die Menschen, die nun zu ihren Plätzen im Parkett und in den anderen Logen strömten.
»Das hätte Garnier aber besser anordnen können«, meinte Alisa unzufrieden.
»Was meinst du?«, erkundigte sich Ivy, die ebenfalls den Blick schweifen ließ.
»Die Logen. Sie sind einander zugewandt, sodass man von den seitlichen die Bühne nur unvollständig sehen kann. Man muss sich vorbeugen und den Hals verrenken, um etwas zu sehen! Da sind die Plätze im Parkett viel besser. Ich verstehe gar nicht, dass die Leute so viel mehr für diese Logen bezahlen.«
Ivy tat so, als müsse sie überlegen. »Vielleicht weil sie mehr daran interessiert sind, ihre Garderobe in einem passenden Rahmen zu präsentieren und zu sehen, wer sonst noch gekommen ist und was die anderen Damen und Herren tragen?«
»Vermutlich«, schnaubte Alisa verächtlich. »Und was auf der Bühne geschieht, ist zweitrangig.«
»Ah, endlich hast du verstanden, wie die Gesellschaft des Adels und des Geldes funktioniert«, gratulierte ihr Franz Leopold.
»Schsch! Da kommt der Meister!« Luciano sprang von seinem Sitz auf und zeigte nach vorn. Die anderen drängten sich an die Brüstung, um einen Blick auf den großen Verdi werfen zu können. Beifall brandete auf. Gemessenen Schrittes ging Verdi zwischen den Musikern hindurch, die sich ehrerbietig vor ihm verneigten. Natürlich trug er einen schwarzen Frack. Ein Zylinder thronte auf seinem weißen Haar. Sein ebenfalls weißer Bart war voll und am Kinn sauber gestutzt. Obwohl er einen Stock mit einem auffälligen Elfenbeinknauf mit sich führte, schien er ihn nicht zu brauchen. Er hielt sich auffällig gerade und ließ den Blick aus klaren blauen Augen über die begeisterte Menge wandern.
Auch Luciano
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