Die Erben der Nacht - Pyras
klatschte enthusiastisch. »Er muss bereits auf die siebzig zugehen. Ein stolzes Alter für einen Menschen.«
»Ein stolzer Mann durch und durch«, sagte Alisa. Dieser Verdi gefiel ihr. Erwartungsvoll ließ sie sich auf ihren Sessel sinken.
Der Maestro legte in Ruhe seinen weißen Schal ab. Hängte den Stock an sein Pult und nahm den Dirigentenstab in die Hand. Die Stille fiel wie ein Vorhang herab, und das ganze Opernhaus schien den Atem anzuhalten, alle Sinne nur auf diesen einen Mann gerichtet. Langsam hob er den Taktstock, hielt kurz inne und ließ ihn dann mit einer peitschenden Bewegung herabsausen. Mit diesem Schwung entfesselte er den Zauber der Klänge.
»Wie ich sehe, gefällt euch die Vorstellung.«
Eriks Stimme ließ die jungen Vampire herumfahren. Das Phantom hatte unbemerkt die Loge betreten. Wie war das möglich? Verfügte er über echte, magische Kräfte, oder waren sie so von der Musik fasziniert gewesen, dass sich ein Mensch unbemerkt hatte hereinschleichen können? Alisa sah, dass die anderen ähnlich verwirrt waren.
Falls Erik dies bemerkte, so ließ er es sich nicht anmerken. Mit einer Verbeugung setzte er sich auf den roten Sessel hinter Ivy und schlug elegant die Beine übereinander. Erik beugte sich zu der Lycana und sagte etwas zu ihr, das Alisa in der aufbrandenden Musik nicht hören konnte. Sie wandte sich ihm zu und lächelte.
Die letzten Töne der Ouvertüre verhallten. Der Maestro ließ den Taktstock sinken, wandte sich um und neigte stolz das Haupt. Obwohl
noch nicht alle Plätze im Parkett und den Logen besetzt waren, schien der Applaus wie der Auftakt zu einem Sturm, wenn die ersten Böen durch einen Wald rauschen und die Bäume erbeben lassen. Verdi nahm die Huldigung in gerader Haltung und mit einem feinen Lächeln auf den Lippen entgegen. Dann wandte er sich wieder seinen Musikern zu. Der Vorhang hob sich. Die Oper nahm ihren Lauf. Alisa war so von der Geschichte und den eindringlichen Klängen gefesselt, dass sie kaum mitbekam, wie sich die Logen um sie herum mit den Mitgliedern der Gesellschaft füllten, deren Name oder Vermögen die Referenz bildeten, in den begehrten Kreis aufgenommen zu werden. Im Parkett drängten sich die einfacheren Bürger, deren Interesse meist mehr auf die Bühne gerichtet war als das der Zuschauer in den Logen. Gerade schob sich ein junges Mädchen am Rand der sechzehnten Reihe auf seinen Sitz, die Wangen gerötet, die Augen vor Begeisterung glänzend. Alisa spürte, wie Malcolm, der schräg hinter ihr saß, sich versteifte. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie er sich vorbeugte und etwas im Parkett fixierte. Alisa ließ sich von der Handlung auf der Bühne ablenken und folgte seinem Blick bis zu dem schlanken, jungen Mädchen mit dem aufgesteckten dunklen Haar in einem weißen Kleid mit roten Schleifen und einem roten Überwurf. Der Mann im dunklen Frack neben hier, der vielleicht die doppelte Anzahl an Jahren zählte, neigte sich ihr zu, um zu hören, was sie sagte. Er lächelte wohlwollend, eher wie ein Onkel denn wie ein Bewunderer. Das Mädchen beugte sich ein wenig vor, den Blick unverwandt auf die Bühne gerichtet. Vielleicht ärgerte sie sich darüber, die Ouvertüre nicht gehört zu haben. Jetzt jedenfalls schien sie entschlossen, keinen einzigen Ton und keine Regung der Akteure mehr zu verpassen. Ihr Fuß, der in einem roten Seidenschuh steckte, lugte unter dem Saum des Kleides hervor und tippte den Takt mit.
Alisa blinzelte. Das Mädchen war zu weit weg, als dass sie ihren Geruch hätte aufnehmen können, doch obwohl nun nicht mehr alle Gaslichter brannten, war sich Alisa sicher, die Nichte des Vampirjägers vor sich zu haben. Und der Mann neben ihr? Der Jäger Carmelo war es nicht. Aber wer dann? Er kam ihr bekannt vor. Sie kniff die Augen zusammen und überlegte. Wo hatte sie ihn schon
einmal gesehen? Ein Friedhof tauchte vor ihrem inneren Auge auf, ein Mann, der schreibend vor einem Grabstein kauerte und dann mit lauter Stimme ein Gedicht sprach. Nein, der Schreiber war es nicht.
Ivy neben ihr wurde auf sie aufmerksam. »Was ist los?«
»Das Mädchen dort unten in der sechzehnten Reihe, siehst du es? Ich sage, es ist die kleine Vampirjägerin aus Rom, und der Mann kommt mir auch bekannt vor. Carmelo ist es nicht, aber wer dann?«
Ivy schwieg einen Augenblick. Wusste sie es auch nicht mehr und musste erst überlegen? Alisa hob den Blick. Nein, sie wirkte eher verblüfft, den Mann hier zu sehen.
»Du erkennst ihn, nicht
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