Die Erben der Nacht - Pyras
doch ihre Miene ließ nicht erkennen, ob sie Erfolg gehabt hatte oder ihnen gleich die
niederschmetternde Absage mitteilen würde. Alisa fühlte, wie sie ganz zappelig wurde.
»Nun? Was ist? Was hat Seigneur Lucien gesagt?«
Ein feines Lächeln umzuckte ihre Mundwinkel. »Er hat viel gesagt. Dass er nicht verstehen kann, was wir daran finden, beispielsweise. Oder dass die hohen Frauenstimmen in ihm das unbändige Verlangen wecken, sie sofort mit einem Biss zum Schweigen zu bringen.«
Franz Leopold zog eine Grimasse. »Ich wusste ja gar nicht, dass es dir Vergnügen bereitet, grausam zu sein. Eine ganz neue Seite unserer Lycana.«
»Ich? Grausam?« Ivy sah ihn verwundert an. »Aber ja. Sieh dir Lucianos Gesicht an. Er leidet Höllenqualen, während du dir einen Spaß daraus machst, uns auf die Folter zu spannen.«
Luciano sah wirklich so aus, als hätte er Schmerzen. Ivy legte die Hand auf seinen Arm. »Du kannst dich entspannen. Wir werden in die Oper gehen!«
Luciano sah sie mit weit aufgerissenen Augen an, als habe er ihre Worte nicht verstanden. Dann riss er die Arme hoch und stieß einen Freudenschrei aus.
»Diese Reaktion finde ich nun doch ein wenig übertrieben«, meinte Franz Leopold und sah mit hochgezogenen Augenbrauen zu Alisa hinüber. »Du wirst nun nicht etwa auch etwas Unüberlegtes tun? Anderen Vampiren um den Hals fallen oder so?«
Alisa grinste. »Nein, keine Sorge. Ich gehe dir nicht an den Hals, aber ich freue mich ebenso, dass wir gehen dürfen. Es wäre sonst schwierig geworden.«
»Du hättest dich dennoch nicht abhalten lassen?« Franz Leopold sah sie interessiert an.
»Nein«, sagte Alisa. »Auf keinen Fall.«
Luciano griff nach seinem neuen Frack. »Gehen wir? Wo ziehen wir uns um? Gleich hier oder bei Erik in der Höhle?«
»Seigneur Lucien hat eine Bedingung genannt«, fügte Ivy hinzu.
»Oh, jetzt kommt’s«, maulte Luciano.
»Nicht so schlimm. Wir sollen nur zwei unserer Servienten mitnehmen,
dass sie ein Auge auf uns haben. Er meinte, die Pyras hätten heute Nacht keine Zeit für uns.«
»Dann werde ich Hindrik mal von seinem Glück berichten«, sagte Alisa. Sie war nicht begeistert, an diesem Abend die beiden Servienten im Schlepptau zu haben, doch wie Ivy gesagt hatte, es hätte schlimmer kommen können. Das Problem war allerdings, dass weder Matthias noch Hindrik einen Frack oder anderen Anzug besaßen, in dem sie in der festlichen Gesellschaft der Opernbesucher nicht aufgefallen wären.
»Ist doch gut«, raunte Luciano Alisa zu, als sie sich auf den Weg machten. »Dann müssen sie eben irgendwo in Eriks Gemächern zurückbleiben und auf uns warten, statt uns ununterbrochen mit ihrem Wachhundblick im Nacken zu sitzen.«
Alisa fühlte sich ungewöhnlich leicht, als sie die große Freitreppe hinaufschritt. Es war ihr, als wäre sie Teil eines Theaterstücks und betrete eine Bühne. Neben ihr ging Ivy mit Luciano. Er hatte sich so schnell an ihre Seite gedrängt, dass Franz Leopold keine Gelegenheit blieb, sie um ihren Arm zu bitten. Und da er anscheinend keine Lust auf die Gesellschaft seiner Cousine verspürte, hatte er sich vor Alisa verbeugt und ihr den Arm gereicht. Nun schwebte die Vamalia neben ihm durch das unvergleichlich prachtvolle Treppenhaus und musste feststellen, dass die Erben der Vampirclans nicht wenig Aufsehen erregten. Herren und Damen der Gesellschaft beugten sich über die Marmorbrüstungen und richteten ihre Operngläser auf die sechs ungewöhnlichen Gestalten mit den ebenmäßigen, blassen Gesichtern. Erik hatte sich am Ausgang des geheimen Ganges von ihnen verabschiedet und würde sie in seiner Loge erwarten. Die Servienten und der Wolf mussten zurückbleiben. Während Hindrik und Matthias das mit ungewohntem Gleichmut hinnahmen, war Seymour außer sich. Erst nach ein paar scharfen, gälischen Worten von Ivy verstellte er ihr den Weg nicht länger und begab sich stattdessen - wenn auch noch immer missmutig - zu Hindrik. Die drei mussten nun in einer kargen Kammer in einem der vielen Kellergeschosse warten, bis die
Opernbesucher zurückkehrten, denn Erik hatte sich geweigert, die drei in seine Gemächer zu lassen. Verständlich, fanden Ivy und Alisa, nachdem sie nicht nur Anna Christina und Malcolm mitgebracht hatten, sondern auch noch die beiden Servienten. Die Maske hatte seine Mimik verborgen, doch an seinen Augen glaubte Alisa, Eriks Missmut zu erkennen. Zuerst hatte er nur Ivy zu sich gebeten und nun wurden es jedes Mal mehr. Vermutlich
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