Die Erben der Nacht - Pyras
Krankheiten sie überfallen. Dann versinken sie manches Mal in Trostlosigkeit, als wären sie schon fast gestorben.«
Während sie sprach, ging sie mit forschem Schritt voran. Und führte sie gerade am Pickhuben vorbei, als ihre Schritte immer langsamer wurden. Irgendetwas stimmte hier nicht. Zögernd drangen sie in das Gewirr von Durchgängen und Hinterhöfen ein. Eine seltsame Stille lag über dem Ort. Es war zu früh für diese Ruhe! Selbst in tiefster Nacht waren hier sonst noch die Stimmen der Betrunkenen zu hören, das Schelten und Weinen ihrer Frauen, das Geschrei kleiner Kinder, die aus dem Schlaf schreckten. Nun aber hörten sie keinen menschlichen Laut.
»Diese Häuser hier sind nicht bewohnt«, meinte Ivy und sog prüfend die Luft ein.
Franz Leopold nickte. »Und dennoch scheinen die Wohnungen noch nicht lange leer zu stehen.«
Die Vamalia betrat mehrere der verlassenen Wohnungen im unteren Stock und lief dann die enge Treppe hinauf. »Das verstehe ich nicht! Wie kann das sein? Ich sage euch, noch vor zwei Nächten war hier alles voller Menschen.«
»Sie haben nichts zurückgelassen außer Abfällen und ein paar
Möbeln«, rief Ivy, die vor einem roh zusammengezimmerten Bett stand, das fast die ganze Kammer einnahm. Vermutlich hatte hier die komplette Familie geschlafen.
»Ja, aber wo sind die Menschen hin?«, rief Alisa, die es noch immer nicht fassen konnte.
»Und warum sind sie alle ausgezogen?«, ergänzte Franz Leopold. Mit angewiderter Miene sah er sich um. »Nicht dass ich verstehe, wie man überhaupt in so einem Dreckloch wohnen kann.«
Sie stiegen die Treppe hinunter und traten in den nächsten Hinterhof. Drei, manchmal vier Hinterhäuser gingen von den schmalen Höfen ab. Das gleiche Bild. Ausgestorben ragten die schmutzigen, von Fachwerkbalken durchbrochenen Ziegelwände in den Nachthimmel. Nur von fern war das nächtliche Leben der Stadt wie ein Summen zu hören. Plötzlich durchbrach das Plärren eines Kindes die ungewohnte Ruhe. Eine polternde Männerstimme versuchte, es zum Schweigen zu bringen. Eine Frau keifte und brach dann in Schluchzen aus. Wieder schimpfte der Mann. In seiner Stimme mischten sich Wut und Verzweiflung.
»Es kommt von der anderen Seite«, meinte Luciano. »Kommt, lasst uns nachsehen.«
»Hier entlang. Das ist der kürzeste Weg.« Alisa führte sie sicher durch das Labyrinth künstlicher Schluchten und Höhlen. Ivy wurde klar, dass sich die Vamalia viele Nächte hier herumgetrieben haben musste, um den Menschen zu lauschen und sich von ihrem Geruch berauschen zu lassen.
Alisa hob die Hand und die anderen verlangsamten ihre Schritte. Die Stimmen waren nun ganz nah. Eine Frau jammerte, dass die Kinder krank seien, und sie nicht wisse, wohin sie gehen sollten.
»Sie brauchen ein Dach über dem Kopf. Wie stellst du dir das vor? Wo sollen wir schlafen? Die Blätter werden schon gelb. Bald kommen die Herbststürme und dann der Winter.«
»Ich hab ja noch meine Arbeit«, entgegnete der Mann kleinlaut. »Solange meine Arme kräftig sind und mein Rücken ungebrochen, kann ich auch Säcke und Fässer schleppen.«
Sie erreichten den Durchgang, der durch das Haus der ersten
Reihe hindurchführte. Alisa legte den Zeigefinger auf die Lippen und forderte die Freunde auf, dicht hinter ihr zu bleiben. Vorsichtig lugte sie um die Ecke.
»Wenn wir nicht verhungern, dann erfrieren wir!«, widersprach die Frau schrill. »Wir brauchen ein Dach über dem Kopf.«
»Alles ist besser als dieses feuchte Loch.«
»Alles? Ich werde dich daran erinnern!«, schrie sie und fing dann wieder an zu weinen. Zwei Kinderstimmen fielen plärrend ein.
»Seid ruhig!«, brüllte der Mann. »Seht zu, dass wir den Karren beladen und hier fortkommen.«
»Ich sehe sie nicht«, wisperte Alisa. »Wir müssen näher ran.«
Die vier jungen Vampire und der weiße Wolf huschten durch den Durchgang und drückten sich im Hof hinter einen Haufen Unrat, den die Bewohner zurückgelassen hatten. Dass sie entdeckt werden könnten, fürchteten sie nicht. Die Menschen waren so leicht zu täuschen. Geräuschlos rückten sie ein Stück weiter zu dem Lichtschein vor, der neben dem Eingang zu einer der Untergeschosswohnungen flackerte. Endlich konnten sie sie sehen. Der Mann war groß mit breitem Nacken und muskulösen Armen, doch sein Rücken war bereits gebeugt, obwohl er sich im besten Mannesalter befinden musste. Er lud gerade einen sichtlich schwer bepackten Weidenkorb auf eine Handkarre, auf der bereits einige
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