Die Erben der Nacht - Pyras
sich die Morgennebel über dem Hamburger Hafen zu lichten begannen, konnte man eine seltsame Prozession sich nähern sehen. Von starken Pferden gezogene Leiterwagen ratterten über das Kopfsteinpflaster. Männer in grober Kleidung und festen Stiefeln saßen auf den Karren oder trotteten hinter ihnen her. Schwere Vorschlaghämmer und anderes Gerät stapelten sich hinter dem Kutschbock. An einigen Wagen waren Schilder mit den Namen der Firmeninhaber angebracht und überall der Schriftzug »Abbrucharbeiten«.
Am Dovenfleet angekommen, teilte sich der Zug der Karren. Einige blieben gleich an Ort und Stelle, andere querten die Brücke zur Wandrahminsel hinüber, der größte Teil jedoch fuhr noch weiter nach St. Annen und zum Pickhuben. Vormänner riefen Befehle und teilten die Mannschaften ein. Die verschiedenen Gruppen scharten sich auf den Kreuzungen und Plätzen zusammen. Die Männer sprangen von der Pritsche. Gerät und Werkzeuge wurden ausgeladen. Für einen Moment standen die Männer schweigend beieinander und ließen den Blick an den verwahrlosten, brüchigen Fassaden hinaufwandern. Nicht wenige von ihnen waren hier aufgewachsen oder hatten bis vor wenigen Tagen noch mit ihren Familien irgendwo in dem Gewirr von Höfen und Gassen gelebt. Ein paar nahmen ihre blauen Schirmmützen ab und pressten sie gegen die Brust. Eine Stimmung erfasste die Männer wie beim Gebet, bis die harsche Stimme einer der Vorarbeiter die stille Morgenluft zerriss. Vorschlaghämmer wurden ausgegeben, die Aufgaben verteilt. Für Feierlichkeit war hier kein Platz mehr. Schwielige Hände umklammerten die von Schweiß glatt geriebenen Stiele. Mit abschätzenden Mienen prüften sie den Zustand der Wände auf Stellen, die dem Eisen am schnellsten nachgeben würden. Bei diesen Häusern musste man nicht lange suchen!
»Männer, fangt an! Los, los, wir haben einen engen Zeitplan.«
Die ersten Schläge krachten. Ziegel splitterten oder zerbröselten einfach unter den Hieben. Mörtel spritzte nach allen Seiten. Äxte fuhren in Fensterrahmen und spalteten die alten Holzbalken. Die wenigen Glasscheiben, die es hier und dort noch gab, zersprangen klirrend. Scherben regneten herab. Bereits zur Mittagsstunde, als sich die Männer keuchend im Schatten niederließen, klafften Schneisen wie tödliche Wunden in den Häuserblocks zu beiden Seiten der Fleete.
Als Alisa am Abend ihren Sarg verließ, genügte ein Blick auf Hindriks ernste Miene, um zu wissen, dass etwas Außergewöhnliches vorgefallen war. Sicher hatte es etwas mit der geheimen Besprechung in der Nacht vorher zu tun, die länger gedauert hatte als angekündigt.
Was dort verhandelt worden war, hatten Alisa und ihre Freunde - zu ihrem großen Ärger - nicht in Erfahrung bringen können. Hindrik war die ganze Nacht über verschwunden geblieben und hatte sich auch nicht an den Unterrichtsstunden beteiligt, die bis in die frühen Morgenstunden auf dem oberen Boden des Hauses abgehalten worden waren. Elektrizität und Dampfkraft waren die Themen gewesen, und wie sie den Vampiren nutzen, ihnen in der Hand der Menschen aber auch schaden konnten.
»Die Schatten der Nacht sind unsere Freunde, denn sie beschützen uns vor den schwachen Augen der Menschen. Elektrisches Licht nimmt der Nacht ihre Schatten und uns unsere Deckung.«
»Aber das ist nichts Neues. Das tun die Gaslaternen schon lange«, widersprach Malcolm. »Es gibt unzählige in London. Ja, alle großen Straßen sind zumindest in den ersten Stunden der Nacht erleuchtet.«
Reint sah Malcolm nachdenklich an. »Hast du schon einmal einen dieser elektrischen Lichttürme gesehen?«
Malcolm hob die Schultern. »Nein, aber das kann nicht viel anders sein als das Gaslicht.«
»Es ist anders!«, betonte Reint. »Es unterscheidet sich wie Sonnenlicht von Mondenschein. Gaslampen erzeugen mancherorts mehr Schatten als Licht. Sie geben den Menschen trügerische Sicherheit und fördern ihren Leichtsinn. In Straßen, die mit Gaslicht erleuchtet sind, würde ich auch junge Vampire bedenkenlos auf die Jagd schicken, doch vor einem Platz, der von einem elektrischen Bogenlicht erhellt ist, kann ich nur warnen! Thomas Alva Edison, merkt euch diesen Namen. Der amerikanische Erfinder wird bei den Menschen vielleicht als der Vater der Glühbirne in die Geschichte eingehen. Bei uns Vampiren wird sein Name neben denen der größten Vampirjäger stehen!«
»Wie Van Helsing?«, murmelte Malcolm.
»Ja, wie Van Helsing, der mit seinen Forschungen genauso viel
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