Die Erben der Nacht - Pyras
zu berichten, Dame Elina habe ihn in einer wichtigen Mission in die Stadt geschickt.
»Oh ja, Alisa, zeige uns deine Stadt oder noch besser den Hafen«, schlug Ivy vor. »Ich finde diese riesigen Schiffe faszinierend.« Sie sah sich suchend um. Ein strahlendes Lächeln huschte über ihr Gesicht, als Franz Leopold zu ihnen trat. Er ließ den Blick mit gleichgültiger Miene über die drei Freunde wandern. Und doch blieb er ein wenig länger an Ivy hängen als an den anderen. Seymour, der wie gewohnt in seiner Wolfsgestalt neben ihr saß, reckte sich ein wenig und fixierte den Dracas mit seinen gelben Augen.
»Wir müssen nicht unbedingt zur Stadt rüber. Einen Teil ha ben wir ja schon gesehen«, sagte Franz Leopold scheinbar gelangweilt.
»Das war gar nichts«, rief Alisa aus. »Ihr kennt den alten Stadtkern noch nicht, wo einst die erste Burg des Bischofs errichtet wurde und das Rathaus stand. Ihr habt den Jungfernstieg mit seiner prächtigen neuen Promenade noch nicht gesehen, die Alster und …«
Luciano unterbrach sie. »Lass gut sein. Du wirst ihn nicht überzeugen, es sei denn, es gelingt dir, an den Gezeiten zu drehen. Ist es nicht so, dass wir auf die Zeit zwischen Ebbe und Flut zustreben, wo es für unsereins am schwersten sein dürfte, die Wasserarme zu queren? Ich bin überzeugt, das bremst Leos Interesse an euren Sehenswürdigkeiten erheblich!«
Franz Leopold warf Luciano einen vernichtenden Blick zu und rief entrüstet: »So ein Blödsinn«, doch Ivy spürte, dass er sich von Luciano ertappt fühlte und sich darüber ärgerte. Tammo, Fernand und Joanne stürmten aus dem Haus und stießen fast mit den noch immer unschlüssig vor der Tür stehenden Freunden zusammen.
»Was habt ihr vor?«, verlangte Tammo zu wissen. »Wollen wir nicht zusammen gehen?«
»Wir haben uns noch nicht entschieden«, wehrte Alisa ab.
»Ach komm, wir sehen uns die Schiffe aus Übersee an und schleichen an Bord. Das ist immer sehr aufregend. Joanne und Fernand kennen keine großen Schiffe und sind sehr gespannt.«
»Geht ihr ruhig zum Hafen.« Alisa wedelte mit der Hand, als wolle sie ein lästiges Tier verscheuchen.
»Aber warum können wir nicht …«
Joanne unterbrach Tammo. »Lass gut sein. Deine Schwester möchte nicht, dass wir uns anschließen. Das wundert mich nicht. Viele Vamalia gehen uns aus dem Weg. Die Deutschen hassen die Franzosen, seit sie gegen Napoleon so kläglich untergingen und ihre westlichen Gebiete an Frankreich abtreten mussten. Seitdem haben sie keine Gelegenheit ausgelassen, sich an Frankreich zu rächen und die Franzosen zu demütigen.« Sie stürmte los. Fernand und Tammo folgten ihr.
Alisa war so entsetzt, dass sie erst ein paarmal tonlos den Mund öffnete und schloss, ehe sie den dreien hinterherrief: »Das ist nicht wahr! Ich hege weder Hass noch Vorurteile gegen die Pyras. Ich wollte nur …« Doch die drei waren bereits um die Ecke verschwunden. Alisa verstummte und fügte in kläglichem Ton hinzu: »Ich hatte nur keine Lust, meinen Bruder am Rockzipfel hängen zu haben.« Sie sah ihre Freunde an. »Ihr glaubt mir doch?«
Franz Leopold hob die Schultern. »Ist es denn von Belang, ob du etwas gegen die Pyras hast? Bei den Dämonen der Nacht, sieh dir die schmuddelige Bande doch an, die in unterirdischen Gängen unter der Stadt haust und in ihrer Entwicklung irgendwann in der Steinzeit stecken geblieben ist.«
Luciano hob genervt die Arme. »Gehen wir jetzt endlich?«
Alisa nickte und ging voran. »Ich führe euch erst ins Gängeviertel. Die Palette der Gerüche hat mich von jeher fasziniert. Es leben dort so viele Menschen auf engstem Raum beieinander. Jede der winzigen Wohnungen ist voll. Es gibt unglaublich viele Kinder, auch wenn sie oft schon in den ersten Jahren wieder sterben. Und dann haben sie noch Schlafgänger, die sich ein wenig Fußboden für ihre Strohmatte mieten und zwischen den Familien nächtigen. Menschen, Menschen und noch mehr Menschen! Ihr Schweiß und Schmutz mischen sich mit den großen Gefühlen, die nicht ausbleiben, wenn so viele von ihnen aufeinanderprallen. Es gibt die Angst vor dem nächsten Tag, die Ratlosigkeit, wie sie weiter überleben sollen, Hass und Wut, angestachelt von der Enge und Branntwein, die Hoffnungslosigkeit, die am Abend ebenfalls gern ertränkt wird, die Verzweiflung der Frauen, wenn sich wieder ein Kind anmeldet und sie so schon nicht wissen, wie sie die Schar satt bekommen sollen. Oder wenn einer der Männer sich verletzt, wenn
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