Die Erben der Nacht - Pyras
kraftvoll vor, und auch seine Schritte wirkten nun schleppend, dennoch hätte Latona es vermutlich nicht geschafft, sich loszureißen und davonzulaufen, selbst wenn sie es versucht hätte. Zu ihrem Erstaunen fühlte sie ein Prickeln, das so gar nicht zu ihrer Angst passte. Wohin würde er sie führen? War das etwa Neugier? Sie musste verrückt geworden sein!
Der Griff um ihr Handgelenk lockerte sich, dennoch folgte sie ihm zu dem Gitter in einer dunklen Ecke des Hofs hinüber, durch das bei starkem Regen das Wasser in die Kanalisation abfloss.
»Sollen wir etwa da hinunter?« Nun war sie doch ein wenig entsetzt.
»Aber ja. Fürchtest du um dein Kleid?«
Eher um mein Leben, dachte Latona, sah aber stumm zu, wie er das Gitter mit beiden Händen umfasste und daran ruckte. Es rührte sich nicht. Seine Miene drückte erst Überraschung und dann Wut aus.
»Schwach und hilflos wie ein Menschenkind«, knurrte er.
Na, ganz so würde ich den Vergleich nicht ziehen, dachte Latona. Ihr stand noch deutlich das Bild vor Augen, wie der Vampir den hilflos zappelnden Wissenschaftler aussaugte.
»Bring mir die Eisenstange dort drüben.«
Latona gehorchte. Sie fragte sich, ob das noch ihr eigener Wille war oder ob der Vampir sie mit irgendeinem Bann belegt hatte. Das war nicht normal!
»Bitte.« Sie reichte ihm die Stange. Er schob das eine Ende unter das Gitter und hebelte es mit einer kräftigen Bewegung auf.
»Wir können«, sagte er einladend. Er bemerkte Latonas Zaudern. »Ich sollte wohl vorangehen. Dort unten ist es für deine Augen ein wenig düster.«
Düster? Stockfinster war es, dass sie nicht einmal die Hand vor Augen hätte sehen können!
Der Vampir zog sie hinter sich her.
Die Tür schlug zu und die Finsternis kehrte mit einem Schlag zurück. Carmelo stand mit den beiden silbernen Stangen in den Händen da und blinzelte verwirrt. Hatte er das gerade richtig gesehen? Der Vampir hatte seine Nichte entführt!
Das konnte nicht sein. Latona war in ihrem Zimmer im Hotel und las in einem der Romane von Zola, Dumas oder Hugo, die sie wie Süßigkeiten verschlang. In zwei der Buchläden an der Rue de Rivoli wurden sie inzwischen wie alte Stammkunden begrüßt und er mit einem Cognac und die junge Dame mit Konfekt verwöhnt. Seine Sinne mussten ihn trügen.
Und doch war dies zweifellos Latonas Stimme gewesen, und er glaubte, auch ihre Gestalt im Schein der Lampe erkannt zu haben, ehe der Vampir sie zu Boden schleuderte. Aber was tat sie hier im Hôpital Cochin? Wie war sie hierhergekommen und warum? Ihre Worte hatten danach geklungen, als wäre sie mit dem Vampir bekannt. Wie zum Teufel konnte seine Nichte einen Pariser Vampir kennengelernt haben?
Carmelo schüttelte fassungslos den Kopf. Er hatte sie unterschätzt und sich zu wenig um sie gekümmert. Sein Ziel, endlich genug Geld zu verdienen, um sich mit ihr irgendwo in England in einem schönen Cottage auf dem Land zur Ruhe setzen zu können, hatte ihn zu sehr in Atem gehalten und den Blick für alles andere getrübt. Dabei hätte er misstrauisch werden müssen. Er kannte seine Nichte inzwischen gut genug, um zu wissen, dass sie neugierig und sehr hartnäckig war. Ihre scheinbare Nachgiebigkeit hätte die Alarmglocken läuten lassen müssen. Hinterher war man immer schlauer.
Die aufgeregten Stimmen der Männer holten ihn aus seinen Gedanken.
Einer fluchte, dann flammte Licht auf. Zwei Gestalten lagen auf dem von Blut nassen Boden. Der eine musste der Chemiker sein. Er lag still und seltsam verdreht da. In seiner Kehle klaffte ein Loch, aus dem nur noch wenig Blut rann. Selbst aus dieser Entfernung konnte Carmelo sehen, dass ihm nicht mehr zu helfen war. Der andere war Viré, der Vater des wissbegierigen Jungen, der ein paar Mal bei ihren Treffen dabei gewesen war. Er wälzte sich stöhnend auf dem Boden, die Hand gegen den Hals gepresst. Zwischen seinen Fingern drang stoßweise hellrotes Blut hervor. Dr. Westphal und der Zoologe beugten sich über ihn, um die Wunde zu begutachten, während der junge Martel die Lampe hielt.
»Die Arterie ist verletzt«, rief Dr. Westphal. »Wir müssen zusehen, dass er nicht noch mehr Blut verliert, und eine Notoperation vorbereiten. Martel, kommen Sie hierher, Girard, nehmen Sie mein Taschentuch und pressen Sie es gegen die Wunde. Ja, so fest wie möglich.«
Carmelo wusste nicht, wie schlecht es um den Mann stand. Doch egal wie es aussah, er konnte ihm nicht helfen. Dafür waren die Ärzte hier im Spital besser geeignet.
Weitere Kostenlose Bücher