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Die Erben der Nacht - Pyras

Die Erben der Nacht - Pyras

Titel: Die Erben der Nacht - Pyras Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Schweikert
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Seine Aufgabe war eine andere. Er nahm die beiden Stangen in eine Hand, lief zur Tür und riss sie auf. Im Vorbeieilen riss er eine der kleinen Lampen aus ihrer Halterung und rannte die Treppe hinauf. Wo war der Vampir hingelaufen? Sicher nach draußen. Carmelo hastete den Gang entlang, bis er die aufgebrochene Tür sah. Er war auf dem richtigen Weg. Der Jäger stürzte auf den nächtlichen Hof hinaus und sah sich um. Halb hoffte er, Latona irgendwo zu entdecken, halb fürchtete er, in was für einem Zustand er sie vorfinden könnte. Was hatte der Vampir mit ihr vor? Hielt er sie als Geisel, um unbehelligt das ummauerte Gelände des Hospitals zu verlassen? Dies war nicht das Bagno! Und Carmelo zweifelte, ob selbst die Sicherheitsvorkehrungen einer Strafanstalt einen Vampir aufhalten konnten. Wozu hatte er sie dann mitgenommen? Um sich unterwegs an ihrem Blut zu stärken? Oder um sich für allen Schmerz, der ihm angetan worden war, zu rächen? Wusste er, dass Latona seine Nichte war?
    Carmelo spürte, wie seine Kehle eng wurde. Oder nahm er sie gar
mit, um sie zu einer der Ihren zu machen? Bei diesem Gedanken wurde ihm schlecht. Doch die Reue kam zu spät. Er hatte den Schwur gebrochen. Latona hatte ihn viele Dutzend Male an sein Versprechen erinnert und ihn gewarnt, nicht leichtfertig damit umzugehen. Nun musste sie für sein Vergehen bezahlen.
    Die Gedanken schwirrten ihm durch den Kopf, während er den Hof nach einem Hinweis absuchte, wohin der Vampir seine Nichte entführt hatte.
    Denk nach!, befahl er sich. Wohin wird er fliehen? In die Dunkelheit. In den Schutz seiner Welt. Da entdeckte er das herausgebrochene Gitter, das in die Abwasserkanäle hinunterführte. Carmelo überlegte nicht lange und kletterte den Schacht hinunter, bis er den Grund des schmalen, überwölbten Ganges erreichte, über dessen Boden das Schmutzwasser aus der Klinik dem großen Sammler und dann der Seine zufloss. Er lauschte, konnte aber außer dem Glucksen des Wassers nichts hören. Rasch folgte er dem Gang, bis er sich das erste Mal verzweigte. Carmelo fluchte. Welche Chance hatte er, Latona in diesem Labyrinth rechtzeitig zu finden? Dies war die Welt der Vampire. Und sie hatten alle Vorteile auf ihrer Seite. Ratlos ließ er den Lichtschein schweifen. Durch den rechten Kanal floss das Wasser weiter. Der linke stieg ein wenig an und war, bis auf ein kleines Rinnsal, trocken. Noch einmal sah er in beide Kanäle. Wohin würde er sie bringen? Da entdeckte er im linken Gang einen nassen Fußabdruck. Hier entlang! Carmelo nahm die Verfolgung auf. Er hörte ihre Schritte.

    In Latonas Ohren begann es zu rauschen. Rasch verlor sie jede Orientierung. Sie spürte zwar, dass er ab und zu die Richtung änderte, konnte aber nicht sagen, ob sie nun nach Norden, Süden, Osten oder weiterhin nach Westen gingen. Zuerst waren sie einem Abwasserkanal gefolgt. Das hatte sie deutlich riechen können, doch dann waren sie ein Stockwerk tiefer geklettert. Der Boden wurde trocken und es roch nur noch nach feuchtem Fels. Mal hörte sie Wasser tropfen, dann umwehte sie ein Luftzug. Der Vampir hielt nicht an,
doch er schwankte nun wieder stärker. Sie spürte ihn zittern. Was würde er machen, wenn seine Kräfte ihn weiter verließen? Würde er sich der Quelle an jungem, stärkendem Blut bedienen, die er noch immer an der Hand hinter sich herzog? Die Angst bäumte sich wie ein Ungeheuer in ihr auf. Sie schalt sich und versuchte, das Gefühl der Panik zu unterdrücken, aber es gelang ihr nicht. Wenn sie wenigstens etwas hätte sehen können! Die absolute Finsternis raubte ihr den letzten Rest an Selbstbeherrschung. Latona spürte, wie sie am ganzen Körper zu beben begann. Wie konnte sie hoffen, dass er es nicht bemerkte? War nicht die Angst des Opfers genau das, was das Raubtier zum Angriff reizte?
    Unvermittelt blieb der Vampir stehen, sodass Latona gegen ihn prallte. Er taumelte. War er schon so schwach, dass sie sich losreißen konnte?
    Er kicherte leise. »Ah, ich fühle es, dein Mut kehrt zurück und mit ihm deine Kämpfernatur. Ich gebe zu, der Angstschweiß hat mir nicht wenig Appetit gemacht, aber nun sei ganz ruhig. Hörst du das? Es müsste deine Hoffnung beflügeln.«
    Er schwieg, und Latona hielt den Atem an, um zu lauschen. Was meinte er? Ein fernes Knacken und Rascheln, Wassertropfen, ein säuselnder Luftzug. Dann hörte sie es. Schritte. Eilige Schritte, die plötzlich verstummten. Ein unterdrücktes Gemurmel. Ein Fluch? War dort in der Ferne nicht

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