Die Erben der Nacht - Vyrad - Schweikert, U: Erben der Nacht - Vyrad
entziehen.«
Malcolm kniff sie in den Arm. » Ah, spricht da eigene Erfahrung aus deinen Worten?«
» Vielleicht«, wehrte sie ab und wechselte das Thema. Sie drehten eine Runde, an der Halle des Inner Temple, dem Schatzhaus und der Bücherei vorbei.
» Hat dir schon jemand erzählt, wen wir außer Bram Stoker in Wien wiedergetroffen haben?«
» Bram Stoker«, wiederholte Malcolm, und seine Stirn umwölkte sich. » Ich erinnere mich an diesen Mann und wie du dir denken kannst, nicht gerade gern!«
Alisa legte ihm ihre Hand auf den Arm. » Weil er dich in jener Nacht in Paris mit dem Degen bedroht hat? Was blieb ihm anderes übrig? Wie sonst hätte er Latona retten können? Deine Leidenschaft ist mit dir durchgegangen– was nur verständlich ist. Verstehe mich nicht falsch, ich will dich nicht kritisieren. Aber sei froh, dass Bram eingeschritten ist, denn sonst wäre Latona jetzt tot. Würdest du das nicht bereuen?«
Nun sah Malcolm ein wenig beschämt drein. » Ja, natürlich. Wie könnte ich sie lieben und wünschen, sie wäre tot? Und das auch noch durch meinen Biss! Und doch ist es, als wäre sie gestorben. Ich habe vergeblich nach ihr Ausschau gehalten. Nacht für Nacht habe ich unseren Treffpunkt aufgesucht, aber sie ist nicht gekommen. Ich fürchte, ich werde sie nie wiedersehen.« Sie schwiegen eine Weile und gingen auf die Kirche zu, die sich an der Nordseite des Platzes erhob.
Alisa lächelte Malcolm an. » Darüber wollte ich gerade mit dir sprechen. Bram Stoker hat sie nicht nur gerettet. Er fühlte sich nach dem Tod ihres Onkels so sehr für sie verantwortlich, dass er sie als sein Mündel annahm. Ich weiß nicht, wo sie die Sommermonate verbracht haben. In seiner Heimat Irland oder hier in London. Im Herbst jedenfalls reisten sie zusammen nach Wien.« Alisa hielt inne und beobachtete gespannt Malcolms Miene. Es dauerte einige Augenblicke, bis er begriff, was sie eben gesagt hatte. Ungläubig starrte er sie an.
» Bram Stoker war mit Latona in Wien?«
Alisa nickte. » Ja, während du sie hier in London gesucht hast.«
Fassungslos schüttelte Malcolm den Kopf. » Ein Grund mehr, zu bedauern, dass ich das letzte Akademiejahr versäumt habe.«
Beide schwiegen für eine Weile und Alisa war klar, wohin seine Gedanken eilten.
» Ich weiß ja nicht einmal, ob sie noch an mich denkt und mich nach dieser Nacht überhaupt wiedersehen will«, murmelte er.
» Aber ja! Sie hat als Erstes nach dir gefragt und war enttäuscht, als ich ihr sagte, du seist nicht mit nach Wien gekommen.«
» Du hast mit ihr gesprochen!« Malcolm war sichtlich erschüttert.
» Ja, und sie hat uns bei unserer Suche nach Ivy weitergeholfen.«
» Aber jetzt müsste sie wieder zurück bei den Stokers sein«, vermutete Malcolm.
Alisa nickte. » Ja, das denke ich auch.«
» Vielleicht versucht sie mich zu finden und hat mir eine Nachricht hinterlassen. Ich war lange nicht mehr in den Kensington Gardens. Ich sollte wieder einmal hingehen.« Malcolm löste sich von ihr und trat zwei Schritte zurück.
» Jetzt? Sofort?«, fragte Alisa und schmunzelte.
Malcolm starrte sie an, als habe er sie ganz vergessen. » Nein, natürlich nicht.«
Alisa hakte sich wieder bei ihm unter. Vielleicht war es besser, ihn im Moment auf andere Gedanken zu bringen. Sie wandte sich der Kirche zu, die ihr während des Gesprächs in ihrem Rücken merkwürdig bewusst gewesen war. Alisa ließ ihren Blick über das ungewöhnliche Gebäude schweifen. Der linke Teil, der mit seinen schmalen, romanischen Rundbogenfenstern der ältere schien, war rund gebaut. Der rechteckige Anbau auf der Ostseite ließ schon ein wenig die Leichtigkeit der späteren Gotik erahnen. Alisa trat ein wenig näher und erschauderte. Die Kirche strahlte eine seltsame Präsenz aus, die jedoch eine andere Schwingung hatte als die Kirchen in Rom, deren Macht sie kennen und überwinden gelernt hatten.
» Was ist das für eine ungewöhnliche Kirche? Ist sie nicht falsch ausgerichtet?«
Malcolm ließ sich tatsächlich von seiner Sehnsucht nach Latona ablenken. » Das ist die Temple Church, die die Tempelritter nach dem Vorbild der heiligen Grabeskirche in Jerusalem als Rundkirche erbauten. Der König war so von ihr angetan, dass er in ihr begraben werden wollte. Dafür musste ein ihm angemessen prächtiger Chorraum geschaffen werden, und so rissen die Ritter den ursprünglich einfachen Chor nieder und fügten diesen für den Hauptbau viel zu großen dreischiffigen Chor im Osten an. Die
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