Die Erben der Schwarzen Flagge
jener arme Kerl, den Damian zu den Haien springen ließ?«, fragte Elena provozierend.
Als wüsste er, dass sie damit nur ihre Furcht zu überspielen suchte, erwiderte Navarro nichts auf die Sticheleien seiner Tochter. Seine Miene zeigte kränkende Gleichgültigkeit, und er schritt einfach weiter, stur wie ein Maulesel, der immer dieselbe Strecke zu gehen hatte. Sie gelangten auf den Korridor zum Audienzsaal, und Elenas Angst steigerte sich, wurde zur blanken Hysterie, als sie an die Schrecken dachte, die dort auf sie warten mochten.
»Bitte, Vater«, raunte sie dem Conde zu, in einem letzten, verzweifelten Versuch, das Unglück abzuwenden. »Lass nicht zu, dass es geschieht! Ich bin deine einzige Tochter! Ich flehe dichan, Vater! Lass nicht zu, dass ich diesem Scheusal zur Frau gegeben werde …«
Aber Navarro reagierte nicht, und sie erreichten die große Tür mit den Doppelflügeln. Sofort waren Wachen zur Stelle, die ihnen öffneten. Ein Schwall von Rauch und bitter fauligem Gestank drang aus dem Halbdunkel jenseits der Tür. Elena wollte zurückweichen, aber ihr Vater hielt sie fest und schob sie unbarmherzig in den Saal.
Nur wenig hatte sich seit Elenas letztem Besuch geändert. Noch immer war der Boden von Unrat übersät. Verwesende Kadaver hingen von der Decke, und der Gestank verschlug ihr den Atem. Der einzige Unterschied bestand darin, dass sich diesmal noch mehr Piraten versammelt hatten, die alle der Feierlichkeit beiwohnen sollten. Auf einen bellenden Befehl hin formten sie eine Gasse, durch die der Conde und seine Tochter den Saal durchschritten – und an deren Ende das Podium stand, auf dem Bricassart mit feistem Grinsen wartete.
Sein Sohn stand bei ihm, wie immer in schwarze Kleider gehüllt und nicht weniger böse grinsend. Mit lüsternen Blicken starrte er Elena entgegen, die der Verzweiflung nahe war. In der Mitte des Saales war ein Kreis aus Fackeln gebildet worden. Um diesen standen der kleinwüchsige Schamane und seine halb nackten Helferinnen und blickten in nicht weniger lüsterner Erwartung. Elena begriff, dass dies keine herkömmliche Hochzeitsfeier werden würde. In Bricassarts Hort des Lasters und des Bösen gab es keinen Priester – man betete finstere Dämonen an und ließ den Schamanen heidnische Rituale vollziehen.
Elena konnte ihren Pulsschlag fühlen, der sich in frenetisches Hämmern steigerte. Ihr Atem ging schwer und stoßweise, und sie hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Der Rauch und der bestialische Gestank drohten sie zu ersticken; fastsehnte sie sich danach, das Bewusstsein zu verlieren. Aber ihre Sinne waren weit davon entfernt, sich einzutrüben und ihr die Schrecken dieser Nacht zu ersparen. Im Gegenteil nahm Elena alles mit überdeutlicher Klarheit wahr, und mit letzter Gewissheit wurde ihr bewusst, dass dies kein Albtraum war, sondern die Wirklichkeit.
Trommelschlag setzte ein, und die Seeräuber hoben zu einem schaurigen Gesang an. Was hier im Gange war, war keine Hochzeitsfeier, sondern das pervertierte Gegenstück: Von ihrem Vater wurde Elena in den Fackelkreis geführt, wo der grässliche Schrein mit dem Totenschädel stand. Elena kam es vor, als grinse das bleiche Knochengesicht ihr hämisch entgegen.
Sie traten in die Mitte des Fackelkreises, wo Navarro seine Tochter ohne Zögern an Damian Bricassart übergab. Der Schamane verfiel in schadenfrohes Kichern und begann, unter Beschwörungen um die beiden herumzutanzen. Erneut brachte man ihm ein Tier, das er grausam verstümmelte und mit dessen Blut er Braut und Bräutigam besudelte. Elena konnte nicht anders, als zu schreien, ihre Wut und ihr Entsetzen laut hinauszubrüllen.
Die Piraten lachten nur.
Nick Flanagan war zufrieden: Die Dinge entwickelten sich, wie seine Freunde und er es geplant hatten.
Von heißer Luft getragen, schwebte der Flugkörper hoch am Himmel und folgte den britischen Schiffen nach Port Royal. Auf der sicheren Passage, die der Chinese in Scarboroughs Karten eingezeichnet hatte, war der britische Verband an der Küste entlanggesegelt und war nun kurz davor, die Klippe zu erreichen, die der Bucht von Port Royal vorgelagert war und sie neugierigen Blicken von der Seeseite entzog.
Von ihrem hohen Aussichtspunkt konnten Nick und seine Freunde bereits sehen, was sich jenseits der Klippe verbarg. Die sichelförmige Bucht von Port Royal tauchte auf, entlang derer sich zahlreiche Gebäude schmiegten, aus denen der warmgelbe Schein von Kerzen und Kaminfeuern drang.
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