Die Erben des Terrors (German Edition)
viel Interesse, als dass es die Kosten für die von seinem Bruder empfohlenen Anwälte und die von diesen empfohlenen Bestechungsgelder an den Hafenmeister von La Blanquilla, die Beamten der Küstenwache und die Richter decken konnte.
Der Anwalt hatte ihm gesagt, dass venez uelanische Richter sehr viel Wert auf ihre Unabhängigkeit legen, aber ein kleiner Obolus das Verfahren deutlich beschleunigen würde. Für die restlichen Zeugen diente es mehr oder weniger dem gleichen Zweck: Sie würden die Wahrheit sagen und das Verfahren nicht, wie in Venezuela durchaus üblich, zehn Jahre in die Länge ziehen.
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Fast zwei Stunden sprach die Ehrenwerte Richterin, Señora Elizabeth Cabello, ihr Urteil, was Dreyer fast verstand – sein Spanisch war in den vergangenen zwei Monaten, die er auf das Verfahren trotz aller Schmiergelder warten musste, immer besser geworden:
„Im Namen des Volkes ergeht hiermit folgendes Urteil: Nach Anhörung aller Ze ugen, vor allem dem ehrenwerten Beamten Señor Maduro der Küstenwache auf der Insel La Blanquilla, kann dieses Gericht mit Stolz beschließen, dass dem anwesenden Señor Doctor Daniel Dreyer, nach eigenen Angaben Witwer und Weltumsegler, das volle Eigentumsrecht an der Segelyacht Nikita des gemäß Beschlusses vom dritten April des hier anwesenden Gerichts verstorbenen Voreigentümers Alexander Wolfersbacher zusteht. Die Gerichtskosten und alle notwendigen Auslagen hat der neue Eigentümer zu tragen.“
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Vier Tage später, mit einer Plastiktüte venezuelanischer Bolívar in der Hand, schüttelte Daniel Dreyer dem sogar für sein Alter jungen britischen Segler, sein Name war David, die Hand und übergab die Carolin . Die Plastiktüte brachte er sogleich zu seinem Anwalt Nicolás, der sich sein Honorar von umgerechnet zehntausend Dollar wirklich verdient hatte, insbesondere, weil daraus auch die gesamten „Sonderboni“ an die Beamten gezahlt wurden. Mit den übrigen knapp fünfzehntausend Bolivar machte sich Dreyer dann auf zu der Werft, die er während der letzten drei Wochen auf der Insel für den Refit der Nikita auserkoren hatte: Jorge’s Place.
„ Señor Dreyer“, begrüßte ihn Jorge Gómez, und fuhr mit etwas Spanischem fort, was Dreyer vielleicht verstanden hätte, wäre es nicht derart akzentbehaftet oder schnell. Aber Jorge’s Blick auf die Plastiktüte verriet Dreyer alles, was er wissen musste, und sagte, „¡Si, Jorge!“, gefolgt von einer kurzen Zusammenfassung des Besprochenen, der Jorge nicht wirklich folgte, während er das viele Geld in der Plastiktüte zählte:
„Sie beschaff en ein neues Besansegel statt dem bestehenden völlig zerfetzten, sie warten den Motor. Sie nehmen das Boot aus dem Wasser und erneuern die Osmosebeschichtung, natürlich mit Material von International . Und Sie lösen die alte Beschriftung am Heckspiegel und beschriften das Boot neu: Hope , registriert in Hamburg.“
Ein Boot umzubenennen bringt Unglück, aber seit Dreyer in der Karibik war, hatte er nicht nur eine Frau getroffen, für die es sich zu leben lohnen würde, Elena, Elena Campbell. Auch wenn er sie wahrscheinlich nie wiedersehen wü rde. Nein, er hatte gerade auch noch ein Boot bekommen, welches er sich nie hätte leisten können. Und zum ersten Mal seit dem Tod seiner Frau und seiner ungeborenen Tochter hatte Daniel Dreyer in den letzten Wochen wieder Hoffnung geschöpft. Hoffnung auf eine gute Zukunft.
Teil II
Никит а
9. Mai 1963
55° 45’ 14.12” Nord, 37° 37’ 12.70” Ost
Roter Platz, Moskau, Sowjetunion
An jedem anderen Tag war das Strammstehen für Bootsmann Alexander R ybak eine lästige Pflicht, die zum Militärdienst dazugehörte. An diesem Tag jedoch war es eine Ehre, zusammen mit zwanzigtausend anderen patriotischen Soldaten den Opfern des Krieges zu gedenken, vor allem aber dem Sieg seines Heimatlandes über die Deutschen zu feiern. In der lauen Frühlingsluft, unter glasklarem Himmel, stand Rybak in zweiter Reihe der Soldaten auf dem Paradeplatz. Wenige Meter vor ihm schritten die wichtigen Regierungsmitglieder an den respektvoll salutierenden Soldaten vorbei.
Er hatte Luftbilder der Feierlichkeiten von 1946 gesehen, auf denen man mit gutem Willen auch seinen Vater hätte erkennen können, wenn man nur wus ste, wo er stand. Von daher hatte Rybak einen Eindruck davon, wie mächtig das militärische Auftreten für Außenstehende wirkte. Da war es auch nicht schlimm, dass er kaum einen der Kameraden um sich herum kannte –
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