Die Erben von Atlantis: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
erreichte, hatte Lilly schon die Tasche ausgepackt. Ihre Kiemen hatten sich geschlossen. »Gut gemacht«, sagte sie, und da kam ich mir wieder vor wie der kleine Schüler, dem seine Lehrerin eine Aufmunterung zukommen lässt. Als wäre das mit uns nie geschehen.
Ich stapfte gerade durch ein paar Wasserpflanzen an Land, als auf einmal etwas mit lautem Brummen auf mei nem Arm landete. Es sah so ähnlich aus wie ein Schmetter ling, hatte aber einen langen, grün schimmernden Körper und vier flache, schillernde Flügel. Schon hob ich die an dere Hand, weil ich es für einen weiteren Roboter hielt, und wir es uns nicht leisten konnten, entdeckt zu werden …
»Nicht!«, sagte Lilly. »Das ist nur eine Libelle.«
Der lange Hinterleib des Tieres zuckte.
»Meinst du, sie ist künstlich?«, fragte ich.
»Ach was. Libellen sind nicht so empfindlich wie Schmetterlinge. Die haben schon die Dinosaurier überlebt.«
Ich hob den Arm und studierte diese alte Kreatur. Vielleicht hatte Lük ja auch schon Libellen gekannt.
»Sie sind dir nicht unähnlich«, sagte Lilly. »Ähnlicher als Frösche oder Schildkröten jedenfalls.«
»Und wieso?«
»Ein Libellenleben fängt im Wasser an. Dann kriechen sie raus und lernen zu fliegen. Sie verwandeln sich, so wie du. Und sie gehören zu den schnellsten fliegenden Tieren.«
»Cool.« Ich stieg die Böschung hinauf, und die kleine Libelle zischte davon.
»Allerdings leben sie auch nur noch ein paar Tage, wenn sie fliegen. Gerade genug, um sich paaren zu können, dann sterben sie.«
»Vielen Dank, Fräulein Assistenzbetreuer.« Ich grinste ihr zu, doch sie wühlte schon wieder in der Tasche. Gestern, als wir beide noch Kiemen hatten, hätten wir jetzt vielleicht gemeinsam gelacht.
Sie warf mir ein himmelblaues T-Shirt zu, das mir deutlich zu groß war.
»Gehört Evan«, sagte sie und förderte noch weitere Kleidungsstücke zutage. »Sollte aber gehen.«
»Okay.« Noch ein kleiner Stich: Wieso hatte sie Evans T-Shirt in ihrer Inseltasche? Hatten sie sich dort getroffen, und er hatte es liegen lassen? Hatte der halb nackte Evan vielleicht auf derselben Decke gelegen, auf der Lilly mich mit Regen bekannt gemacht und gewärmt hatte? Ich hasste die Vorstellung.
Sie stand auf, einen Armvoll Kleider an die Brust gedrückt. »Jetzt dreh dich um, und nicht gucken.«
Mein Herz schlug schneller und ließ mich meine Eifersucht fast vergessen. Ich drehte mich um und zog mir das Shirt über. Auch wenn meine Muskeln etwas zugelegt hatten, war es doch immer noch riesig. Evangröße.
»Okay«, sagte Lilly.
Ich drehte mich wieder um. Sie trug jetzt Jeansshorts und ein ärmelloses Oberteil und cremte sich gerade die Schultern mit NoRad ein.
»Soll ich …«, setzte ich an und stockte.
»Was?«
»Soll ich dir helfen?«, fragte ich.
»Ach was, geht schon.« Sie warf mir die Flasche zu. »Du solltest auch etwas auftragen. Auf den Steinstufen sind wir ziemlich ungeschützt.«
»Alles klar.« Ich versuchte nicht enttäuscht zu klingen, doch irgendwie war auf einmal alles so verklemmt. Kam diese neue Distanz nur von ihrer Sorge um die anderen? Oder lag es wirklich daran, dass ich kein Kiemenatmer mehr war? Aber wir waren doch beide noch Atlanter – also wo war das Problem? Ich wusste es nicht.
»Der Weg liegt in dieser Richtung«, sagte sie und marschierte los.
Ich schloss die Flasche und folgte ihr.
»Hier.« Lilly nahm mir die Creme ab und gab mir dafür einen kleinen Energieriegel. »Schmeckt wie Bettlaken, aber ich schätze mal, wir können heute nicht zum Mittagessen.«
»Eher nicht«, sagte ich. »Danke.« Ich riss die Packung auf und verschlang den hellen, mehligen Riegel, ohne den Geschmack weiter wahrzunehmen.
Wir wanderten durch den Nadelwald und näherten uns langsam wieder dem Camp. Dann stießen wir auf einen staubigen Pfad, der in steilen Serpentinen den Hang hinaufführte. Wir folgten ihm und gewannen rasch an Höhe.
Bald sahen wir den glitzernden See und das ferne Schimmern der Stadt zwischen den Bäumen. Der Pfad wurde immer unwegsamer, und kurze Zeit später kletterten wir über flache Felsen, die eine Art natürliche Treppe bildeten. Die Bäume hier oben waren kleiner, das Astwerk dichter. Dann verließen wir den Schutz der Kronen und standen im hel len Licht der SafeSun-Leuchten. Es war deutlich wärmer als unten am See. Wenn ich die Augen zusammenkniff, konnte ich gar nicht weit über mir sogar die unterste Phalanx von Lampen erkennen. Ihre Hitze fühlte sich
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