Die Erben von Somerset: Roman (German Edition)
keine Hoffnungen auf seinen Anruf zu machen, das ahnte sie.
Verärgert nahm sie die alte Toliver-Familiengeschichte
zur Hand, die sie mitgebracht hatte, um sich die Zeit zu vertreiben. Seltsam, dass Tante Mary sie ihr gegenüber nie erwähnt und ihr auch nie gezeigt hatte … Beim Klang der verhallenden Kirchenglocken und dem Summen der letzten Bienen im Altweibersommer schlug sie den Band auf und begann zu lesen.
Percy lauschte dem Geläut der First Methodist Church in Howbutker, deren Gottesdienst er – bis auf die Zeit im Krieg und während seiner Geschäftsreisen – fast jeden Sonntag seines Lebens besucht hatte. Er erinnerte sich nicht mehr an alle Geistlichen auf der Kanzel; die meisten blieben, solange der Bischof es erlaubte, denn die Kassen der Kirche waren voll und die Bedürfnisse der Gläubigen sowie das Dasein in Howbutker unkompliziert. Nicht einer von ihnen hatte ihm in all den Jahren wirklich Inspirierendes oder Lehrreiches sagen können. Percy besuchte die Kirche eher der Ruhe, der Musik und des Trostes wegen, den er nirgendwo sonst fand.
An jenem Morgen brauchte er diesen Trost besonders. Die ganze Woche über, also fünf Tage lang, hatte er sich von Amos und den Anwälten Argumente angehört, und als das Für und Wider erschöpfend diskutiert war, einigte man sich, auf Somerset zu verzichten. Die Anwälte, die nicht aus Howbutker stammten, wunderten sich, dass er so lange mit seiner Entscheidung wartete. Wie konnte er überhaupt mit dem Gedanken spielen, die Plantage nicht zurückzugeben und für sein Unternehmen ein Gerichtsverfahren und für sich selbst einen Skandal zu riskieren?
Trotzdem gelang es ihm nicht, die Worte auszusprechen, die alle – auch Matt – hören wollten. Matt hielt sich zu einem Überraschungsbesuch bei Lucy in Atlanta auf. Er hatte seinem Großvater nach der Auflösung des Konklaves am Freitag mitgeteilt, dass er zu seiner Großmutter fliegen
und erst am Sonntagnachmittag zurückkehren würde. Percy hatte verständnisvoll genickt. Matt sah Lucy jetzt in anderem Licht und musste seine jahrelange Fehleinschätzung ihrer Person wiedergutmachen. Obwohl Percy ihn nur ungern hatte ziehen lassen, freute er sich für Lucy, dass sie sich nun näherkommen würden. Nach Percys Tod hätte sie nur noch Matt.
Percy schloss die Augen. Bis zu seinem Tod würde es wahrscheinlich nicht mehr allzu lange dauern. Inzwischen wunderte es ihn selbst, wenn er morgens aufwachte. Er war müde, hatte genug vom Leben. Ein Mann ohne Träume besaß kein Leben mehr, und seine Träume waren definitiv dahin. Nicht einer davon hatte sich realisiert, jedenfalls keiner der wichtigen – eine harmonische Ehe, eine glückliche Familie, ein Haus voller Kinder und Enkel. Ironie des Schicksals, wie Mary ihm noch im Tod den letzten Traum raubte, von dessen Existenz er bis dahin nichts geahnt hatte: dass Matt und Rachel sich verlieben, heiraten, ihre Imperien zusammenlegen, glücklich unter einem Dach leben und endlich die Rosenkriege beenden würden.
Die Orgel ließ die Gläubigen verstummen. Kein Sonntagmorgen verging, an dem Percy nicht zu den Kirchenbänken hinübergeschaut hätte, auf denen früher Ollie, Matthew und Wyatt saßen. Manchmal glaubte er fast, sie dort alle gestriegelt und geschniegelt zu sehen, Ollie mit schimmernder Glatze, die Haare der Jungen noch feucht vom Waschen. Ihre Hinterköpfe, Profile und Silhouetten hatten sich unauslöschlich in sein Gedächtnis eingebrannt. Wie sehr sie ihm fehlten!
Der Gottesdienst begann. Als Percy sich erhob, um mit den anderen Gläubigen das erste Lied zu singen, spürte er Amos’ besorgten Blick im Rücken. Percy konnte ihn verstehen. Es gab nichts Frustrierenderes als einen alten Kauz, der
sich einfach nicht entscheiden konnte, obwohl der Weg klar vor ihm lag. Percy wusste, was er tun musste, und bat trotzdem seinen Herrn und Schöpfer, diesen Kelch an ihm vorübergehen zu lassen. Vielleicht fand sich ja irgendwo in der Predigt ein Körnchen Wissen, das ihm einen anderen Weg wies.
»Hört mir zu, die ihr der Gerechtigkeit nachjagt und die ihr den Herrn sucht: Schaut den Fels an, aus dem ihr gehauen seid, und des Brunnens Schacht, aus dem ihr gegraben seid«, las der Geistliche aus dem Alten Testament.
Percy versuchte, die Bedeutung seiner Worte zu ergründen. Was zum Teufel soll ich damit anfangen? Er konnte keine Antwort darin erkennen. Er hatte sich nie um den Felsen, aus dem er gehauen, oder den Brunnenschacht, aus dem er gegraben
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